Gebrochene Schwingen
hatte ich es nicht für nötig gehalten, meine Schlafzimmertür abzuschließen, aber nun tat ich es. Trotzdem blieb ich noch lange wach. Als ich endlich einschlief, war es wie eine Erleichterung für mich. Am Morgen erwachte ich von den typischen Geräuschen eines Hauses, das allmählich wieder belebt wird – Dienstboten eilen hin und her, Fenster und Vorhänge werden geöffnet, das Frühstück wird bereitet. Ich horchte einen Augenblick lang darauf; dann setzte ich mich schnell im Bett auf.
Hatte ich mir meinen nächtlichen Besucher nur eingebildet?
Oder geträumt? Ich zog den Bademantel und die Hausschuhe an und ging zu meiner Schlafzimmertür. Sie war abgeschlossen. Wenn ich das nicht geträumt hatte, war alles andere auch kein Traum gewesen. Ich öffnete die Tür und schaute mir den Teppich im Flur an. Die Feuchtigkeit war zwar nicht mehr zu sehen, aber es gab andere Spuren. Irgend jemand hatte ein bißchen Schmutz hinterlassen. Wer war das gewesen?
Ich zog mich schnell an, fest entschlossen, das Rätsel zu lösen. Tony konnte ich nicht fragen. Er hatte früh gefrühstückt und war schon längst zur Arbeit gefahren. Deshalb schnappte ich mir im Eßzimmer Curtis und fragte ihn, ob er etwas wüßte.
Aber das war nicht besonders klug von mir. Der Mann war fürchterlich entsetzt und dachte wohl, ich hätte eine Bestätigung von Rye Whiskeys Erzählungen von übernatürlichen Dingen erlebt.
»Nein, Mrs. Stonewall«, sagte er. »Ich bin nicht herumgelaufen und habe auch niemanden gesehen. Aber es ist nicht das erste Mal, daß man jemanden durch das Haus hat wandern hören. Rye Whiskey sagt, das muß wohl einer von Mr. Tattertons Vorfahren sein. Er meint, daß vielleicht einmal einer ermordet worden ist und daß nun dessen Seele Erlösung sucht.«
»Das ist ja lächerlich. Sagen Sie Rye, daß ich mit ihm reden möchte.«
»Sehr wohl, gnädige Frau«, sagte Curtis und verschwand. Ein paar Minuten später kam Rye. Der stämmige, grauhaarige, schwarze Mann sah aus, als wenn er selbst die ganze Nacht wach gewesen wäre.
»Wie ist das mit dem ermordeten Vorfahren, der nachts durch unsere Hallen wandelt? Glaubst du nicht, daß du mit deinen Geschichten allmählich ein bißchen zu weit gehst, Rye? Curtis glaubt dir schon, und Martha Goodman sagt, den anderen Dienstboten zittern schon die Knochen.«
Er lächelte mich an und schüttelte den Kopf.
»Sie haben ihn letzte Nacht gehört, nicht wahr, Miss Heaven?« Er nickte, als ob er mich damit zu einer Antwort zwingen könnte.
»Ich habe etwas gehört und habe einen Blick auf jemanden werfen können, aber das war kein Geist«, sagte ich.
»Ich habe ihn auch gehört«, sagte Rye.
»Und du hast deine Ängste ertränkt, hast dich in den Schlaf getrunken?« fragte ich. »War es nicht so?« Er mußte es mir nicht bestätigen, ich sah es an seinem Gesicht. »Die Dienstboten werden richtig verstört, Rye. Möchtest du Mr.
Tatterton erzählen, was hier los ist?«
»Er weiß es schon, Miss Heaven«, sagte Rye und beugte sich zu mir vor. »Ich habe ihn schon selbst des Nachts herumlaufen sehen, wie er gelauscht hat und gesucht. Wer weiß«, Rye richtete sich wieder auf, »vielleicht hat Mr. Tatterton seinen toten Verwandten schon getroffen?«
Einen Moment lang schaute ich ihn nur an.
»Das ist doch lächerlich. So etwas Lächerliches kannst du doch nicht behaupten, Rye. Es tut mir leid, daß ich es jemals zugelassen habe, daß du mich mit deinen abergläubischen Geschichten unterhältst.«
»Es tut mir leid, Miss. Ich muß jetzt zurück in die Küche und das Frühstück für Mrs. Tatterton fertig machen.«
»Geh zu. Du warst wirklich keine Hilfe.« Ich sah ihm nach, als er fortging. Dann schaute ich Curtis an, der, mit unbewegtem Gesicht wie immer, dastand. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie diesem Schwachsinn Glauben schenken«, sagte ich. Aber ich klang nicht ganz so überzeugend, wie ich es eigentlich wollte. Mein Frühstück ließ ich stehen und ging nach draußen, um nachzudenken.
Seit dem Tag, an dem ich mich verirrt hatte, war ich dem Labyrinth aus dem Weg gegangen. Aber heute morgen fühlte ich mich auf unerklärliche Weise von ihm angezogen.
Vielleicht war das auf die seltsamen Ereignisse zurückzuführen, die sich in der vergangenen Nacht abgespielt hatten. In dem Augenblick, als ich nach draußen trat, kam es mir vor, als befände ich mich in einem Traum. Das Blau des Morgenhimmels verdunkelte sich, als sich eine große Wolke vor die Sonne schob. Ein
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