Gebrochene Schwingen
als wenn diese Werkzeuge fein säuberlich nebeneinander aufgereiht in der Nische in der Wand untergebracht gewesen wären. An diese fertigen und halbfertigen Teile auf dem Tisch konnte ich mich nicht erinnern. Hatte Tony einen anderen Künstler angeworben, der nun in Troys Hütte lebte und arbeitete?
Ich beschloß, dem nachzugehen. Zu meiner Überraschung war die Küche mit frischen Lebensmitteln versorgt. Als ich den Teekessel auf dem Herd berührte, fühlte ich, daß er warm war. Irgend jemand hatte noch vor kurzer Zeit eine Tasse Tee zubereitet. Warum erlaubte es Tony, daß die Hütte benutzt wurde? War er deshalb so zurückhaltend gewesen, als ich ihn um Erlaubnis gebeten hatte, die Hütte zu besuchen? Hatte er deshalb das Gespräch auf Troys Tod gelenkt, um so die ganze Unterhaltung über die Hütte zu beenden?
Beim Durchsuchen der Hütte entdeckte ich außer den winzigen Waffen auf dem Tisch noch mehr Gegenstände, die gerade in Arbeit waren. Auf den Regalen waren wertvolle kleine Burgen und Strohhütten aufgestellt, die von mittelalterlichen Miniaturmenschen bevölkert waren. Die Replik einer alten englischen Kathedrale war nur zur Hälfte angemalt, und ein paar ihrer winzigen, bunten Glasfenster waren noch nicht eingefügt. Daneben die Anfänge einer feudalen Schlachtszene, in der Ritter zu Pferd mit ausgestreckten Lanzen Pfeilschützen in Waldgrün bedrohten.
Auf einem kleinen Hügel stand eine schöne Maid, die sich zweifellos um ihren jungen Ritter sorgte. Neben ihr hielten zwei Hofdamen Spitzentaschentücher vor das Gesicht.
Jetzt verstand ich, was Tony getan hatte, und mir wurde eiskalt ums Herz. Er ließ mich glauben, daß er die Hütte zu einem lebendigen Schrein für seinen toten Bruder umgewandelt hatte, vielleicht aus einem unbestimmten Schuldgefühl heraus. Statt dessen dachte er nur ans Geschäft und an seine kleinen, kostbaren Spielsachen. Er hatte jemanden gefunden, der so geschickt wie Troy war, und hatte ihn in Troys Hütte untergebracht! Voller Scham hatte er nun wohl befürchtet, daß ich herausfinden würde, worauf es ihm am meisten ankam – nämlich immer mehr und mehr Geld zu scheffeln. Ich hatte angenommen, daß auch ihm das gleiche heilig und kostbar sein würde wie mir. Aber das war ein Irrtum gewesen. Jetzt fühlte ich mich wie eine Ehefrau, die herausfindet, daß ihr Vater die Kleidung und die Wertsachen ihres toten Ehemanns weggegeben hat.
Wutentbrannt drehte ich mich auf dem Absatz um. Ich wollte nach Farthy zurücklaufen, dort auf Tony warten und ihn mit meiner Entdeckung konfrontieren. Aber etwas anderes erregte meine Aufmerksamkeit – die Kellertür stand halb offen. Einen Augenblick lang starrte ich sie an, dann lächelte ich in mich hinein. Natürlich, dachte ich. Derjenige, den Tony angestellt und dem er erlaubt hatte, die Hütte zu benutzen, mußte mein Kommen gehört und sich im Keller verborgen haben.
Vielleicht hatte Tony ihn vor mir gewarnt, nachdem wir beide uns über die Hütte unterhalten hatten. Vielleicht hatte er ihm auch untersagt, mit mir zusammenzutreffen. Ich entschloß mich, diese Person zu stellen.
Ich ging zur Tür und die Treppe hinunter. Aber ich hatte vergessen, wie dunkel es unten in dem großen, fensterlosen Raum und in den unterirdischen Gängen, die zum Haupthaus führten, war. Also ging ich zurück nach oben und holte eine Kerze. Damit kehrte ich in den Keller zurück, entschlossen, diese für mein Empfinden blasphemische Verletzung aufzudecken.
Der Schein der kleinen, gelben Flamme flackerte auf den Kellerwänden. Als ich mich von links nach rechts wandte, schimmerte die schwache Lichtquelle sanft durch die Dunkelheit und ließ den Fußboden und die Wände des dunklen, leeren Raums aufscheinen. Ich nahm an, daß er sich in die unterirdischen Gänge zurückgezogen habe, und ging langsam auf sie zu. Als mir Troy zum ersten Mal die Gänge zeigte, erzählte er mir, daß er als kleiner Junge immer Angst davor gehabt hatte, sie zu durchwandern. An jeder Biegung des Tunnels erwartete er, daß Monster erscheinen oder Gespenster aus den Nestern der Dunkelheit heraustreten würden.
Aber ich erwartete jetzt keine Monster oder Gespenster; ich erwartete, einen kleinen, eingeschüchterten Mann vorzufinden, der Angst um seine Arbeit hatte. Denn wenn ich ihn fing, würde Tony ärgerlich werden und ihn hinauswerfen. Ich wußte, daß es nicht fair war, an ihm meine Wut auszulassen, aber meine Erregung konnte ich nicht mehr unterdrücken. Die Hütte und
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