Gedankenmörder (German Edition)
sich mit Freundlichkeiten, ohne einen zu kennen. Und dann gibt es noch die Sorte Männer, die mich für mein Äußeres abstraft, weil eine schöne Frau ja angeblich nichts in der Birne haben kann.»
Weinend war Petersen damals auf ihrem Stuhl zusammengesackt, und Vanessa hatte zum ersten Mal in ihrem Leben gedacht, dass wirklich schöne Menschen tatsächlich eine Bürde zu tragen haben. Erst nach diesem Ausbruch fiel ihr auf, dass ihre Lebensgefährtin kaum eigene Freunde hatte.
«Die Frauen haben meist Angst, dass sich ihre Männer in mich verknallen, oder fühlen sich in meinem Schatten, wenn wir gemeinsam unterwegs sind», hatte Petersen ihr erklärt. Tatsächlich suchten neben Vanessa nur noch zwei weitere Frauen ihre Nähe. Die eine studierte und war bei den Grünen politisch aktiv, die andere war ein paar Jahre älter und arbeitete als Konrektorin an einer Grundschule. Von diesen beiden Frauen fühlte sie sich «gesehen» und in ihrem Kern gemeint. Vor allem aber durfte sie mit den Partnern der beiden Freundinnen lachen und scherzen, ohne böse Blicke zu riskieren. Sie vertrauten ihr und der eigenen Anziehung.
Nein, es gab Momente, da hätte Navideh Petersen alles dafür gegeben, eine ganz normale, durchschnittlich aussehende junge Frau zu sein. Und so empfand sie denn auch die harmlos gemeinte Neckerei als verletzend.
Vanessa musterte ihre Freundin kurz. Während sie den Weißwein aus dem Kühlschrank holte, fragte sie beiläufig: «Und habt ihr den Typen endlich?» Dabei klang ihre Stimme, als erkundige sie sich gerade nach einem stadtbekannten Eierdieb. Tatsächlich war Vanessa so schnell durch nichts zu erschüttern. Vielleicht lag es daran, dass sie es verstand, alles Negative immer ein Stückchen von sich fernzuhalten.
«Das spart den Psychotherapeuten», pflegte sie regelmäßig zu sagen. Manchen schien sie deshalb etwas oberflächlich.
Doch Petersen wusste, dass Vanessa ein tiefgründiger Mensch war. Sie wollte sich nur nicht verschlingen lassen von düsteren Gedanken oder ängstlichen Zukunftsvisionen. Dank dieser gewissen Robustheit konnte Petersen mit ihrer Freundin über alle Begegnungen und erschütternde Vorfälle in ihrem Berufsalltag reden. Bei anderen Bekannten hatte sie die Erfahrung gemacht, dass die meisten ihren Beruf faszinierend fanden, aber stets erwarteten, dass ihre Erzählungen auch ein Happy End haben sollten.
Mit Vanessa war es genau andersherum. Sie fand Navideh faszinierend und ihren «Polizeijob», wie sie ihn oft etwas abfällig nannte, völlig unpassend. Vanessa hätte ihre Freundin lieber in dem Kunsthandwerkgeschäft in Hamburg gesehen, das Navidehs Mutter gehörte. Oder besser noch in einer elegant gestalteten Dependance in Bremen. Doch darüber war mit Navideh nicht zu reden. Dabei liefen die Geschäfte ihrer Mutter und ihres Bruders Mahmud auch nach dem Tod des Vaters vor zwei Jahren ausgesprochen gut.
«Ich wäre nichts anderes als eine Verkäuferin. Das würde mich zu Tode langweilen», hatte Navideh alle Überlegungen ihrer Freundin abgewehrt.
Erst nachdem sie sich länger kannten, war Navideh damit herausgerückt, warum sie möglichst viel Distanz zwischen sich und ihre Familie bringen wollte.
Das Unverständnis ihrer Mutter für ihre Berufswahl und die Verachtung von Mahmud für seine «Pistolen-Schwester» schützten sie vor vielen Nachfragen und zu großem Interesse an ihrem Leben. Wenn sie einen ihrer Pflichtbesuche zu Hause absolvierte, bombardierte Navideh ihre stets jammernde, depressive Mutter mit Fragen, damit man ihr selber keine stellte.
Ihrem älteren Bruder und seinen Freunden gegenüber mimte sie die Langweilerin: einsilbig, humorlos und eine absolute Null im Haushalt. Kein Iraner aus dem Bekanntenkreis ihrer Eltern sollte auf die Idee kommen, in ihr eine begehrenswerte Braut für seinen Sohn zu sehen. Dennoch hatte Mahmud ihr schon mehrmals klargemacht, dass sie nach ihrer Scheidung wieder heiraten sollte. Oft warf er ihr vor, sie sei eine Schande für die Familie. Ihr Vater hätte ihr nie erlauben sollen, nach dem Abitur «diesen Deutschen» zu heiraten. Schlimmer wog aber noch, dass sie sich bereits nach gut fünf Jahren wieder von ihm hatte scheiden lassen. Ihr Vater hatte damals vor Wut auf den Tisch gehauen und sie angebrüllt, sie solle nicht nur an sich, sondern auch an die Familie denken.
Wie so oft in ihrem Leben hatte Navideh Petersen damals zu einer Notlüge gegriffen. Alles, was sie innerhalb ihrer Familie erreicht hatte,
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