Gedankenmörder (German Edition)
spielten mit dem Nachbarn Backgammon oder eine Partie Schach. Über dem Viertel, fand Petersen, hing an manchen Nachmittagen das Flair zeitloser Leichtigkeit.
Da Gardinen unüblich waren, konnte man abends einen Blick in die Innenwelt der Häuser werfen. Viele Bewohner hatten die hohen Decken in den Zimmern genutzt, um eine zweite Ebene oder ein Hochbett für ihre Kinder einzubauen. Manche Häuser wurden schon seit Jahrzehnten von Wohngemeinschaften genutzt, gleich neben elegant ausgebauten Rechtsanwaltspraxen und Häusern von Hochschulprofessoren.
Ein Wohnparadies mit Schatten, denn auf den Hauptstraßen im Viertel lungerten Junkies, Punker und Drogendealer herum. Die Offenheit der Häuser war deshalb nur vordergründig. Da viele Viertel-Bewohner schon mal Besuch von drogensüchtigen Einbrechern gehabt hatten, schützten sie sich im Souterrain mit geschwungenen Gittern vor den Fenstern. Im Hochparterre besaßen die meisten Fenster extra Verriegelungen.
Petersen stieg die ausgetreten Sandsteinstufen ihres Hauses in der Alexanderstraße hoch, öffnete die erste Glasttür des Windfangs mit der kunstvoll gravierten Scheibe und schloss ihre Wohnungstür auf. Rechts führte eine geschwungene Treppe in den ersten Stock des Hauses. Dort wohnte ein älteres Ehepaar, darüber ein junger Designer. Wie in Bremer Häusern üblich, hätte Petersen einfach in die Zimmer ihrer Nachbarn gehen können, denn es gab keine extra Eingangstür für die Bewohner der ersten und zweiten Etage. Das lag daran, dass die Häuser ursprünglich oft nur von einer Familie samt ihrem Personal bewohnt wurden.
Petersen öffnete die Tür zu ihrem Wohnzimmer im Hochparterre, durchschritt einen zweiten, nur durch eine riesige Schiebetür abgetrennten Mittelraum und steuerte auf einen komplett verglasten Wintergarten zu. Direkt vor dem Fenster, das einen Blick in einen großen Garten bot, stellte sie ihre Einkaufstüten ab. Heute Abend sollte es kleine Leckereien vom Türken geben und dazu einen guten französischen Wein. Sie freute sich darauf, endlich erzählen und ihren Gefühlen freien Lauf lassen zu dürfen. Der Unbekannte, den sie jagten, machte ihr Angst. Wer immer so etwas mit einer toten Frau anstellte, der musste, davon war Petersen überzeugt, wahnsinnig sein.
Während sie weitere Zutaten aus dem Kühlschrank herausholte, liefen im Hintergrund die alten Songs von Gianna Nannini. Sie hörte nicht, dass jemand das Wohnzimmer betreten hatte. Petersen war gerade damit beschäftigt, zwei Kerzen anzuzünden, als sie plötzlich von hinten stürmisch umarmt wurde. Zwei Hände legten sich über ihre Brüste. Sie drehte sich ruckartig um und warf ihr langes, dunkles Haar mit einer kurzen Bewegung ihres Kopfes über die Schulter. Einen Moment schauten sich die beiden Frauen wortlos an. Dann küssten sie sich leidenschaftlich und blieben eng umschlungen vor dem Esstisch stehen.
Vanessa löste als Erste die Umarmung.
«Na, Frau Kommissarin, sind Sie heute wieder tüchtig angebaggert worden?»
«Ach, hör auf», sagte Petersen und wirkte für einen kurzen Moment gereizt. «Ich reagier da gar nicht drauf.»
«Vielleicht, Navideh, sollte ich deinen neuen Kollegen einfach mal verklickern, dass du nicht auf Männer stehst. Dann muss ich nur noch eure Sekretärin fürchten», neckte Vanessa sie weiter.
«Das würden sie dir auch gerade glauben, wo ich doch fünf Jahre ordentlich verheiratet war», entgegnete Petersen ihrer Freundin trocken.
«Okay», sagte Vanessa und versuchte ihrer Stimme einen professoral-sachlichen Ton zu geben. «Einigen wir uns darauf, dass du zurzeit an eine Lesbe vergeben, bisexuell veranlagt bist und schon mal versucht hast, heterosexuell zu leben. Natürlich vergebens.»
Die schlanke Frau mit ihren halblangen blonden Haaren und den akkurat gezupften Augenbrauen war bestens gelaunt. Sie fühlte sich sicher. Es bereitete ihr großes Vergnügen sich vorzustellen, wie die Männerwelt ihrer attraktiven Freundin reihenweise Avancen machte. Dabei übersah sie geflissentlich, dass Petersen das Thema Schönheit seit langem gründlich zum Halse raushing.
In einem der seltenen Wutausbrüche vor einigen Monaten hatte Petersen ihrer Freundin entgegengeschleudert: «Die Leute reduzieren mich nur auf Haare, Haut und lange Beine. Du denkst, es sei toll, wenn einen alle bewundern. Aber es widert mich nur noch an. Die Kolleginnen unterstellen dir, eingebildet zu sein oder die Männer verrückt zu machen. Und die Typen überschlagen
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