Gedankenmörder (German Edition)
basierte auf blitzschnell zusammengereimten Ausflüchten. Mit den Jahren war sie darin immer geschickter geworden. Und kaltblütiger. Sie hatte lügen müssen, um mit auf Klassenfahrten gehen zu können, hatte sich wahnwitzige Geschichten ausgedacht, um einen regelmäßigen Tanzkurs mit Abschlussball zu besuchen oder auf eine Party ihrer Klassenkameradinnen gehen zu können. Selbst ihr kleines Tattoo auf dem Unterschenkel konnte sie sich nur aufgrund einer Lüge machen lassen. Ihrem aufgebrachten Vater hatte sie damals erzählt: «Das ist ein Bio-Tattoo. Das verblasst nach zwei Jahren wieder.»
Auch Marten hatte sie, als sie 19 Jahre alt war, nicht aus Liebe geheiratet. Sicher, er sah gut aus, war angehender Jurist und hatte eine durchtrainierte Figur. Wenn er nicht Tennis spielte, ging er ins Fitnessstudio oder lief Inliner. Aber sein größter Vorzug war, dass nichts und niemand ihn damals aus Bremen wegbringen konnte. Dort hatte er seine Freunde, seine Sportvereine und eine Anwaltskanzlei, in die er eines Tages einsteigen wollte. Navideh Petersen musste also nach ihrer Heirat von Hamburg nach Bremen ziehen. «Ich gehöre doch zu meinem Mann», hatte sie ihre widerstrebenden Eltern mit deren eigenen Argumenten überzeugt.
Ihre Rechnung ging auf.
Der Umzug entpuppte sich als erster Schritt in die Freiheit. Weg von ihren Eltern, die sich stets nach außen liberal gaben und dennoch jeden ihrer Schritte zu kontrollieren versuchten, und weg von ihrem jähzornigen Bruder Mahmud, der jeden Mann in ihrer Nähe argwöhnisch beobachtete.
Natürlich hatte sie die Scheidung von Marten auch nur mit einer Lüge gegenüber ihrer Familie durchsetzen können. Innerlich bat sie damals ihren Mann um Verzeihung, als sie scheinbar am Boden zerstört ihrem Vater beichtete: «Marten kann keine Kinder bekommen, Vater. Er ist unfruchtbar.» Diese Mitteilung änderte alles. Navideh brauchte nicht zu fürchten, dass ihr Vater ihren Mann auf diese Ungeheuerlichkeit ansprechen würde. Undenkbar, solche Intimitäten unter Männern zu besprechen. Eine Woche nach ihrem «Geständnis» erteilte ihr der Vater die Erlaubnis, sich zu trennen. Zugleich kündigte er ihr an, dass eine neue Heirat diesmal nur mit einem Iraner in Frage komme.
Navideh hatte die gehorsame Tochter gespielt und sich heimlich geschworen, nie wieder zu heiraten. Der wahre Grund für die Trennung war schlicht Langeweile.
Schon nach wenigen Monaten Ehe hatte Navideh gemerkt, dass sie sich mit Marten nicht viel zu sagen hatte. Weder interessierte er sich für ihre Ausbildung bei der Bremer Polizei noch für Taekwondo, ihren geliebten Sport. Zugleich ließ er sie kaum an seinem Leben teilhaben und war oft in seiner Freizeit mit Freunden unterwegs. Navideh war für ihn eine Eroberung, eine Beute, mit der man in der Öffentlichkeit und auf Partys glänzte. Schon nach vier Jahren bestand ihre Ehe praktisch nur noch auf dem Papier.
Als Navideh schließlich eines Sonntagmorgens ankündigte, sie wolle sich scheiden lassen, schien Marten sogar erleichtert. An diesem Wochenende redeten sie so viel miteinander wie seit langem nicht mehr. Auch Marten, erfuhr Navideh, war nicht glücklich gewesen und hatte es bereut, sich so früh an eine Frau gebunden zu haben.
Navideh hatte bei der Mitwohnzentrale nach einer Frau gesucht, mit der sie sich die Miete für die geräumige Altbauwohnung teilen konnte. Die erste junge Frau verliebte sich nach wenigen Monaten in einen Tischler und zog sofort mit ihm zusammen. Die zweite, Nadine, erwies sich als Schmarotzerin. Ständig überließ sie Navideh den Großeinkauf, zahlte wochenlang nicht in die gemeinsame Haushaltskasse ein und weigerte sich zu putzen. Als Navideh sie eines Abends dabei erwischte, wie sie mit einer Freundin in der Küche eine Prise Kokain schnupfen wollte, setzte sie Nadine vor die Tür. Als Polizistin konnte sie sich so eine Mitbewohnerin nicht leisten.
Danach lebte Navideh das erste Mal in ihrem Leben völlig allein. Doch bald waren ihre finanziellen Reserven aufgebraucht. In einem Buchladen im Ostertor entdeckte sie einen frech formulierten Zettel, auf der eine Frau nach einem Zimmer in einer Frauenwohngemeinschaft suchte.
«Achtung: Ich habe eine Schlampen-Allergie, koche gerne gut und viel und interessiere mich für alles Weibliche.»
Das klang gut, fand Navideh, obwohl sie den letzten Zusatz nicht richtig zu deuten wusste. Als sie bei Vanessa anrief, dauerte ihr erstes Gespräch geschlagene zwei
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