Gedankenmörder (German Edition)
Birgit hat das nur einmal gemacht. Nach der Trennung von ihrem Freund. Eine alberne Trotzreaktion. Dann habe ich sie mir vorgeknöpft, und es war vorbei mit diesen Treffen.»
Steenhoff fragte sich, was wohl «vorgeknöpft» bedeutete.
«Ihre Frau sagt, die Treffen hätten häufiger stattgefunden», entgegnete Steenhoff ruhig.
«Ach, sie hat doch keine Ahnung. Meine Birgit hat immer auf mich gehört.»
Abschätzig schaute Herbert Lange auf seine Frau, die stumm vor sich hinstarrte.
«Wie kam es zu diesem einen Blinddate?», wollte Steenhoff von Christine Lange wissen.
Bevor sie antworten konnte, fuhr ihr Mann dazwischen: «Ihre Freundin Beate hat sie darauf gebracht. Dieses Luder ist mir danach nie wieder über diese Schwelle gekommen.»
Steenhoff ließ sich von Christine Lange die Nummer und Adresse der langjährigen Schulfreundin ihrer Tochter geben, dann wandte er sich zum Gehen.
Herbert Lange brachte die beiden Beamten zur Tür. Schweigend fuhren Steenhoff und Petersen zurück nach Bremen. Kurz vor dem Ortsschild sagte Petersen plötzlich: «Sie hat Angst. Furchtbare Angst. Er schlägt sie.»
Steenhoff spürte, dass Petersen recht hatte. Auch ihm war aufgefallen, wie sich Frau Lange bei den Worten ihres Mannes immer mehr verkrampft hatte. Trotzdem fragte er nach: «Wie kommen Sie darauf?»
Petersen sah starr geradeaus.
«Weil ich weiß, wie sich das anfühlt.»
Sie schluckte. Dann sah sie Steenhoff direkt an. «Mein Vater hat mich früher geschlagen, wenn ich mich nicht in seinem Sinne verhalten habe. Jetzt glaubt mein Bruder, er sei das Familienoberhaupt.»
Empört platzte es aus Steenhoff heraus: «Sie wollen doch nicht sagen, dass Ihr Bruder Sie schlägt?»
Petersens strich sich mit einer energischen Handbewegung die langen Haare aus dem Gesicht.
«Wie ich schon sagte: Die Zeiten sind vorbei.»
12
Als Steenhoff an dem Abend nach Hause kam, war niemand da. Zwei Zettel lagen auf dem Küchentisch. Der eine von Ira, der andere von Marie. In letzter Zeit war es oft so ruhig in seinem umgebauten Bauernhaus. Zu ruhig für seinen Geschmack.
‹Zwei eilig dahingekritzelte Grüße. Das ist, was von meiner Familie übrig geblieben ist›, dachte er grimmig.
Unwillig stellte er fest, dass ihm die Unabhängigkeit seiner beiden Frauen Angst machte.
Marie wurde rasant flügge.
Und Ira? Sie schien alles interessanter zu finden, als nur Mutter und Ehefrau zu sein.
Immerhin wollte Ira gegen 23 Uhr von ihrer Freundin wieder zurück sein. Marie dagegen hatte angekündigt, zusammen mit einigen Freundinnen am Wochenende auf der Jugendfarm zu übernachten. Er spürte, wie sich für einen kurzen Moment sein Magen zusammenzog. Marie war sein einziges Kind. So wie es Birgit Lange für ihre Eltern gewesen war.
Er dachte an den Psychopathen, der irgendwo da draußen noch frei herumlief und von der nächsten Frauenleiche träumte. Steenhoff zwang sich, keine Angst um Marie aufkommen zu lassen. Er kannte sich. Immer wenn ein Opfer oder die Angehörigen einem Menschen aus seinem Umfeld ähnelten, verlor er zeitweise den Abstand. Diesmal hatten ihn die Eltern, die um ihre einzige Tochter trauerten, stark berührt.
Steenhoff ging eine Etage höher in sein kleines Arbeitszimmer. Warum er das Zimmer mit den Holzbalken in der Decke so nannte, konnte er nicht sagen. Auch Marie und Ira bezeichneten es so, obwohl dort nur sein altes Saxophon stand und eine ganze Wand voller Bücher.
Er las gerne. Am liebsten über Schicksale und Lebenswege von deutschen Auswanderern in den USA . Doch weder für die Musik noch für seine vielen ungelesenen Bücher hatte er genug Zeit. Gedankenverloren nahm er sein Alt-Saxophon in die Hand, das er vor Jahren in ein Salzsäurebad getaucht hatte, um einen weicheren Ton zu bekommen. Er begann mit
Doxy
von Sonny Rollands. Das Stück saß noch, obwohl es Wochen her war, dass er zuletzt geübt hatte.
Er probierte ein schwierigeres Stück.
Take Five
von Paul Desmond. Aber der Fünf-Viertel-Takt wollte ihm einfach nicht gelingen. Nach drei Versuchen wechselte er zur Jazzlegende Charlie Parker und begann sein Lieblingsstück
Yardbird Suite
zu spielen. Wie immer sang er die Melodie innerlich mit. Langsam begann die Musik ihn einzufangen.
Steenhoff schloss die Augen und ließ seine Finger über die Klappen gleiten. Nach einer Stunde fühlte er sich völlig entspannt. Er duschte kurz, trank ein Glas Wein und schaute aus dem unbeleuchteten Wohnzimmer in den dunklen Garten, hinter dem die Weiden eines
Weitere Kostenlose Bücher