Gedankenmörder (German Edition)
Abreise zu erledigen hatte und es ihm überließ, mit seiner pubertierenden, muffelnden Tochter vormittags zum Orthopäden zu fahren. Ausgerechnet in der einen Stunde, in der er sein Handy beim Arzt abgeschaltet hatte, mussten die Eltern von Birgit Lange im Präsidium auftauchen.
Und nun hatte er sich auch noch wie ein Idiot benommen. Immer noch aufgewühlt zwang er sich, das Protokoll zu lesen. Petersen hatte alle Fragen, die für die Ermittler noch offen waren, gestellt. Eine reife Leistung für jemanden, der sich auf eine Befragung nicht vorbereitet hatte. Doch, nachdem er das Protokoll ein drittes Mal gelesen hatte, beschlich ihn das Gefühl, dass eine bestimmte Frage nicht gestellt worden war. Steenhoff blickte auf Noldes
Herbstmeer
. Einen kurzen Moment tauchte er so tief in das Bild ein, dass er den stürmischen Nachtwind zu spüren meinte. Plötzlich wusste er, was ihm fehlte. Zuvor musste er aber noch etwas anderes erledigen.
Er griff sein Handy und die Fahrzeugschlüssel und eilte zur Kantine. Zu seiner Erleichterung saß Petersen allein am Fenster und las Zeitung. Vor ihr stand ein leerer Salatteller.
«Darf ich mich zu Ihnen setzen?»
Die junge Frau sah überrascht auf. Steenhoff spürte sofort die Wut, die sich hinter ihrer beherrschten Fassade verbarg.
«Ich esse gerne alleine.»
Ohne auf ihre Worte einzugehen, setzte sich Steenhoff an die gegenüberliegende Seite des Tisches.
«Ich wollte mich bei Ihnen entschuldigen. Ich bin heute gereizt ins Büro gekommen und habe es an Ihnen ausgelassen. Tut mir leid.»
Steenhoff wusste, was jetzt kommen würde. Matt fiel er in seinen Stuhl zurück und wartete auf das Unvermeidbare. Nach einem Streit mit Ira gelang eine Versöhnung nur, wenn er bereit war, den Streit anschließend Wort für Wort von seiner Frau analysieren zu lassen. «Bloß kein oberflächlicher Frieden», lautete Iras Motto. Ihm ging es anders. Aber für Ira war sein Hang, sich so schnell wie möglich wieder mit ihr zu versöhnen, «nur Vermeidung echter Auseinandersetzung». Er dagegen hasste das Psychogerede, denn meist fühlte er sich Ira dabei unterlegen.
Seine Entschuldigung überraschte Petersen. Langsam löste sich ihre Erstarrung. Steenhoff meinte sogar, ein leises Lächeln um ihren Mund zu bemerken. Plötzlich hielt sie ihm ihre Hand hin. «Okay. Ich nehme Ihre Entschuldigung an. Schwamm drüber.»
«Schwamm drüber?», wiederholte Steenhoff verwirrt.
Petersen nickte.
«Ja. Oder möchten Sie noch gerne darüber reden?»
«Nein, bloß nicht», beeilte sich Steenhoff zu sagen und fühlte sich schon wieder wie ein Idiot.
Freundlich sah Petersen ihn an: «Ich wollte mir noch einen Kaffee holen. Soll ich Ihnen einen mitbringen?» Steenhoff nickte. Als sie beide vor ihren Kaffeebechern saßen, folgte er einem spontanen Impuls. «Ich wollte heute Abend noch nach Oldenburg. Zu den Eltern von Birgit Lange. Es würde mir helfen, wenn Sie mitkommen könnten.»
«Habe ich etwas vergessen zu fragen?» Petersen klang besorgt.
«Nein, Sie haben das gut gemacht. Sehr gut sogar. Es ist nur eine Idee, die ich hatte, und dazu brauche ich eine entspannte Atmosphäre. Und Sie kennen die Eltern ja bereits.»
Er betrachtete seine Kollegin. «Was war eigentlich mit dem Vater los? Block erzählte, er sei auf sie losgegangen.»
«Er war nur aufgewühlt. Es ist nichts passiert.» Petersen wirkte plötzlich verändert. Der lockere, freundschaftliche Ton zwischen ihnen war weg.
«Hat er sie angegriffen oder geschlagen?»
Petersen lachte, aber es klang bitter. «Ich lasse mich von keinem Mann schlagen. Da machen Sie sich mal keine Sorgen. Das gibt es bei mir nicht mehr.»
Auf dem Weg zum Auto überlegte Steenhoff, was sie mit ihrem letzten Satz gemeint haben könnte. Vermutlich sprach sie für ihre Generation von gut ausgebildeten, selbstbewussten Frauen, für die Gewalt in einer Beziehung völlig undenkbar war.
Stumm saßen sie im Auto nebeneinander. Jeder schien seinen Gedanken nachzuhängen. Steenhoff versuchte, sich innerlich auf die Eltern einzustellen. Schließlich bat er Petersen, sie ihm zu beschreiben. Während er nach wenigen Minuten ein Bild von Birgit Langes Mutter hatte, blieb seine Vorstellung von dem Vater vage. Petersen hatte große Mühe, ihn zu skizzieren. Steenhoff fragte sich, ob es an der Auseinandersetzung lag, die sie mit dem Mann gehabt hatte.
Nach einer guten halben Stunde standen sie vor einem zweistöckigen Einfamilienhaus, dessen Vorgarten an einen kleinen Park
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