Gedankenmörder (German Edition)
erinnerte. Die Frau, die ihnen öffnete, wirkte eingefallen. Das geschmackvoll eingerichtete Haus mit seinen kräftigen leuchtenden Wandfarben stand in merkwürdigem Kontrast zu der fahlen schmalen Frau. Petersen hatte im ersten Moment Mühe, in ihr Christine Lange wiederzuerkennen. Die ungeheure Trauer über den Verlust ihrer Tochter hatte bereits tiefe Spuren in ihr Gesicht gegraben.
«Mein Mann schläft. Er hat Beruhigungstabletten genommen. Ich möchte ihn nur ungern wecken», sagte Christine Lange und wies stumm auf das weiße Zweiersofa, auf dem Steenhoff und Petersen Platz nehmen sollten.
Steenhoff sprach ihr sein Beileid aus. Dann erklärte er der Frau, warum er so viel wie möglich über ihre Tochter erfahren musste. Ihr Lebensweg, ihre Kontakte oder Freunde könnten sie vielleicht zum Täter führen. Christine Lange blickte an ihm vorbei, schien aber verstanden zu haben.
«Bitte beschreiben Sie uns, was Birgit für ein Mensch war», sagte Steenhoff.
Fragend sah die Mutter Petersen an.
«Sie haben das heute Morgen schon erzählt. Aber es würde uns helfen, wenn wir es noch mal vertiefen könnten», warb Petersen um Verständnis.
Christine Lange nickte und fummelte ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche. Steenhoff ließ sie erzählen, ohne sie ein einziges Mal zu unterbrechen. Zweimal verschwand sie in einem Nebenzimmer, um neue Taschentücher zu holen, nahm aber immer wieder den Faden auf.
Birgit Lange schien das ganze Glück ihrer Eltern gewesen zu sein. Sie hatten sich nie Sorgen um ihre Tochter machen müssen. Bis zu dem Tag des Unfalls war alles glattgelaufen.
Steenhoff wusste, Christine Lange würde noch Stunden von ihrer toten Tochter reden können. Für manche Menschen war dies die einzige Möglichkeit, ihre Trauer zu überleben: reden und immer wieder reden. Steenhoff hatte es selber erlebt, als Thomas, ein enger Schulfreund von ihm, vor drei Jahren plötzlich an einem Gehirnschlag gestorben war. Über Wochen hatte er Ira in jeder freien Minute von Thomas und ihren gemeinsamen Erlebnissen erzählt. Damals war es ihm so vorgekommen, als wäre sein Freund nicht tot, solange er noch von ihm redete.
Unvermittelt riss Steenhoff die Mutter aus ihren Gedanken.
«Birgit war ein wunderbarer Mensch. Sie müssen sehr stolz auf sie gewesen sein.»
Christine Lange sah ihn dankbar an.
Seine Frage traf sie völlig unvorbereitet: «Worüber haben Sie sich Gedanken gemacht?»
Die Frau sah ihn irritiert an. «Wie meinen Sie das?»
Steenhoff spürte, dass Christine Lange plötzlich auf der Hut war. «Nun, junge Menschen probieren Dinge aus, sind neugierig und spüren oft nicht die Gefahr, die wir Eltern schon von weitem bemerken.»
Steenhoff hatte bewusst von «wir Eltern» gesprochen. Er setzte sich auf die Kante des Sofas und sah die Frau eindringlich an.
«Frau Lange, wann hatten Sie zuletzt Angst um Birgit?»
«Ich», Christine Lange machte eine Pause und knetete nervös ihre Handknöchel. «Ich brauchte mir keine Sorgen um Birgit zu machen. Nie.»
Die Beharrlichkeit, mit der die Frau alle Schwierigkeiten zwischen Tochter und Eltern leugnete, begann Steenhoff zu ärgern.
«Ich habe selbst eine Tochter. Ich weiß, dass man an manchen Tagen vor Angst stirbt. Was war es, womit Ihre Tochter Ihnen schlaflose Nächte bereitet hat?»
Petersen hatte dem Dialog verwundert zugehört. Die Mutter tat ihr leid. Schließlich versuchte sie doch, so gut es ging, alles zu berichten. Vermittelnd wollte sie eingreifen. Ohne den Blick von der Frau zu wenden, legte Steenhoff seine Hand auf Petersens Bein. Eine flüchtige Geste nur, aber Petersen verstand. Sie sollte schweigen. Widerstrebend gab sie nach.
Einen Moment sagte niemand etwas.
Plötzlich platzte es aus Christine Lange heraus: «Diese Blinddates habe ich immer gehasst. Ich habe ihr gesagt, dass das nichts für sie ist. Ein Mädchen von ihrem Format, ihrer Herkunft. Das trifft sich doch nicht mit fremden Männern. Zum Kochen. Ha!» Sie lachte bitter. «Aber wenn der Anruf von ihren sogenannten Freundinnen kam, dann zog sie wieder los.»
Steenhoff wollte gerade nachhaken, als hinter ihm eine Stimme brüllte: «Christine! Was redest du da wieder für einen Unsinn.»
Wie vom Blitz getroffen zuckte die Frau zusammen.
Hinter Steenhoff und Petersen stand plötzlich Herbert Lange in der Tür. Er wirkte so zornig, dass Steenhoff unwillkürlich vom Sofa aufsprang und sich schützend vor Christine Lange stellte.
«Hören Sie nicht auf meine Frau.
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