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Gedenke deiner Taten

Gedenke deiner Taten

Titel: Gedenke deiner Taten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Unger
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Halbdunkel sah sie wie eine zerbrechliche alte Frau aus. Als hätte sie das Tageskostüm der vitalen, energiegeladenen Frau vorübergehend abgelegt.
    »Mom, was tust du da?« Kate schloss die Tür hinter sich.
    »Ich hänge meinen Erinnerungen nach«, sagte Birdie.
    Diese Antwort überraschte Kate. War das eine Aufforderung? Sie hatte den Eindruck, dass ihre Mutter auf sie gewartet hatte. Offenbar hatte Birdie geahnt, dass sie kommen würde, so wie viele Mütter voraussehen, was ihre Töchter als Nächstes tun. Wegen ihres distanzierten Verhältnisses fand Kate diese plötzliche Gedankenverbindung ein bisschen unheimlich.
    »Ich glaube, ich habe etwas gesehen«, sagte Kate. »Da dachte ich, ich sehe besser nach dir.«
    »Jetzt fängst du auch schon damit an?«
    »Nein, wieso?« Oder doch? Auf dem schwach beleuchteten Weg vom Gäste- zum Haupthaus hatte Kate nichts bemerkt. Nur den Regen, den Wind, der die Bäume bog, und ihre Schritte auf dem steinigen Pfad. Sie hatte den Lichtkegel der Taschenlampe in die Baumgruppe gehalten, aber nur ein Kaninchen aufgeschreckt, das in die Finsternis davonhoppelte. Sie spürte, wie isoliert sie waren.
    Birdie schien nicht zuzuhören. Kate setzte sich zu ihr und stellte wieder einmal fest, wie hart und unbequem der Stuhl war.
    »Und was hast du für Erinnerungen?«, fragte sie und legte Lampe und Signalpistole auf den Tisch. Birdie schob die Taschenlampe von sich, so als blende sie der Schein. Der Lichtkegel warf riesige, gespenstische Schatten an die Wohnzimmerwand. Der Regen klopfte unablässig aufs Dach und an die Fensterscheiben.
    »Was hat sie dir über Richard Cameron und meine Mutter erzählt?«, fragte Birdie plötzlich.
    Bei der Frage fuhr Kate zusammen. Sie hatte mit ihr irgendwie gerechnet. Die Antwort lag ihr auf der Zunge.
    »Wer?«, fragte sie unschuldig. Sie wollte Zeit gewinnen.
    »Caroline«, sagte Birdie. »Ihr wart doch dicke Freunde.«
    Birdie wusste, wie man eine Beleidigung elegant tarnte. Dicke Freunde. Kate und Caroline hatten immer nur genommen, was Birdie verschmäht hatte. Hätte Birdie ihre Verteidigungshaltung aufgegeben und einen Schritt auf sie zu gemacht, hätte sie Kate und Caroline für sich gewonnen. Beide Frauen hatten ihr Leben lang darauf gewartet, von Birdie wahrgenommen und akzeptiert zu werden.
    »Ja«, sagte Kate, »wir standen uns sehr nah.«
    Birdie schnaubte, und es klang traurig und verächtlich zugleich. Vor ihr lag das Fotoalbum, um das Caroline jahrelang gekämpft hatte. Vermutlich hatte es die ganze Zeit in der Hütte gelegen.
    Ihre Mutter schlug die letzte Seite auf und legte die beringten Finger über die Bilder. Immer schon hatte Kate Birdies schlanke weiße Finger bewundert, die zartvioletten Adern unter der durchscheinenden Haut, die perfekt manikürten Fingernägel. Je älter Birdie wurde, desto eleganter wurden ihre Hände. Kate hatte die Hände der Burkes geerbt, kräftig und damit unweiblich.
    »Die Vorfahren deines Vaters waren Bauern«, hatte Birdie immer gesagt. »Birdie hält alle, die für ihren Lebensunterhalt arbeiten müssen, für Bauern«, erklärte ihr Vater . » Aber diese Leute haben unsere Nation mit ihren eigenen Händen erschaffen . Darauf kannst du stolz sein . « Kate wusste nicht, ob sie die Geschichte glauben sollte. Ihr Großvater väterlicherseits hatte sein Geld an der Wall Street gemacht, ihr Urgroßvater mit dem Bau der Eisenbahn. Anscheinend hatten die Burkes immer gewusst, wo gutes Geld zu verdienen war, Bauernvorfahren hin oder her.
    »Vor langer Zeit, als ich ein Kind war«, fing Birdie an, »habe ich sie zusammen gesehen. Richard Cameron und deine Großmutter. Meine Mutter hat sich nachts aus dem Haus geschlichen, um ihn auf der unbewohnten Insel zu treffen, die heute John Cross gehört. Bis gestern habe ich es immer für einen Traum gehalten. Denn genau das hatte meine Mutter zu mir gesagt. Sie sagte, ich hätte alles nur geträumt.«
    Birdie drehte das Foto um, und Kate erkannte Lanas Handschrift. »Mein Schatz, es tut mir so leid. Es war kein Traum.«
    »All die Jahre hat mich die Erinnerung an jenen Morgen beschämt«, fuhr Birdie fort. »Alle haben mich verspottet, mich ausgelacht. Dabei habe ich wirklich gesehen, wie sie in seine Arme gesunken ist.«
    Kate erschrak, als Birdie ihre Hand berührte.
    »Wie viel weißt du?«
    Kate zog ihre Hand weg. Früher hatte sie sich nach einer Berührung ihrer Mutter gesehnt. Aber nun konnte sie sie kaum ertragen.
    »Ist das jetzt nicht egal,

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