Gedenke deiner Taten
gesehnt. Sie wollte den Kopf irgendwo anlehnen und für ein paar Stunden abtauchen. Alles war neu und anders, als sie es in Erinnerung hatte. Die Insel wirkte kalt und dunkel. Statt einem Haus standen da plötzlich drei. Und ja, es waren tatsächlich Leute auf der Insel. War ihr Vater auch da, lag er friedlich schlafend in seinem Bett? Emily ließ den Blick schweifen. Vermutlich im größten Haus, ganz links. Für einen kurzen Moment war sie erleichtert, als habe sie nach beschwerlicher Reise endlich das Ziel erreicht.
»Mach die Augen auf«,hatte ihre Mutter immer geschimpft. » Nimm zur Kenntnis, wie die Dinge wirklich sind.«
Das Wetter spielte verrückt. Sie hatten es kaum bis auf die Insel geschafft. Dean am Ruder, Brad daneben, die Pistole in Deans Rücken gedrückt. Wasser war ins Boot geschwappt, und das Gefährt hatte sich bei jeder größeren Welle aufgebäumt. Emily war übel geworden, aber sie hatte sich zusammengerissen.
Sie hatte die dunklen, irgendwie bedrohlichen Umrisse von Heart Island entdeckt, sobald sie den Yachthafen hinter sich gelassen hatten. Oder bildete sie es sich bloß ein? Heart Island war eine der größten Inseln im See, und man gelangte dorthin, indem man immer geradeaus steuerte. Sie hatte sich schweigend neben Dean gekauert, der nicht einmal mehr wagte, sie anzusehen. Dabei war ihr Zorn längst verraucht. Sie fühlte sich nur noch benommen.
Eine gefühlte Ewigkeit später war das Boot endlich auf einem steinigen Strand aufgelaufen. Eine bessere Stelle zum Anlanden hatten sie nicht gefunden. Das Knirschen war so laut und der Aufprall so heftig, dass Emily fest damit rechnete, dass in den Häusern das Licht angehen würde. Aber es blieb ruhig. Emily wusste nicht, ob das Boot leckgeschlagen war oder das Wasser an ihren Füßen vom starken Seegang stammte. Nun lag das Boot schief auf den Kieseln.
Brad stieg als Erster aus, wobei er sie nicht aus den Augen ließ. Dean und Emily folgten ihm.
Brad versteckte das Geld im Boot, was Emily für idiotisch hielt, schließlich könnte es sinken oder aufs offene Gewässer abtreiben. Fünftausend Dollar. Sie und Dean hatten ihr Leben für fünftausend Dollar weggeschmissen. Sie dachte an den Studienfonds, den ihr Vater für sie eingerichtet hatte. Ihre Mutter verwaltete das Geld; Emily hatte keine Ahnung, wie viel davon noch übrig war.
»Das reicht für ein Studium und die erste Zeit danach«, hatte ihre Mutter gesagt. »Ich hatte so etwas in deinem Alter nicht. Wenn mir jemand solch eine Starthilfe geschenkt hätte, hätte ich vielleicht nicht alles falsch gemacht.«
Von welchen Fehlern sprach sie? Und wie hatten diese Fehler Marthas Leben zerstört? Sie hatte nachgefragt, aber Martha hatte nur geantwortet: »Das sage ich dir, wenn du älter bist.« Aber es war nie dazu gekommen.
»Und jetzt?«, fragte Dean.
Brad antwortete nicht sofort. Er musterte sie mit seltsamem Blick. Er fragt sich, dachte Emily, ob er uns auf der Stelle erschießen soll oder ob wir ihm noch nützlich sind. Ihre Benommenheit wich Verzweiflung.Ich muss uns retten, dachte sie. Sie meinte nicht sich und Dean – sie meinte sich und das Baby.
Dean ließ den Kopf hängen. Sie hatte nur noch Verachtung für ihn übrig. Was hatte sie in ihm gesehen? Warum hatte sie sich in ihn verliebt? Er war wie eine Droge, die einem anfangs guttat und von der man schnell abhängig wurde. Aber jedes weitere Hoch war nur noch ein müder Abklatsch des ersten Glücksgefühls. Wie hatte Carol es beschrieben? Schätzchen, so läuft das immer. Bis sie dich am Haken haben.
Emily schlang sich die Arme um die Taille. Ihre Periode war ausgeblieben, und vor einer Woche hatte sie den Schwangerschaftstest gemacht. Positiv. Martha hatte sie immer gewarnt, aber nun war sie im selben Alter schwanger geworden wie ihre Mutter.
Es fühlte sich irreal an. Sie hatte keine Verbindung zu dem Leben, das in ihr heranwuchs. Immer schon hatte sie den Anblick schwangerer Frauen geliebt; sie strahlten, schienen sich in ihrem Körper wohlzufühlen und sich des kleinen Gefährten stets bewusst zu sein. Emily beobachtete gern, mit welch träger Vorsicht diese Frauen sich hinsetzten, wie sie die Hände schützend auf den runden Bauch legten. Sie fühlte sich nicht so, sondern wandelte in einem Traum und gab sich einer Illusion hin.
»Okay«, sagte Brad. Offenbar brauchte er sie noch. »Wir werden es folgendermaßen angehen.«
Birdie saß mit einer Teetasse am Tisch, als Kate hereinkam. Zusammengesunken im
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