Gedenke deiner Taten
sich Lanas Schilderungen als Fenster zu einer fremden, längst vergangenen Welt erwiesen hatten. Stattdessen hatte Kate eine vorgefertigte Antwort parat, die sie immer anbrachte, wenn ihr jemand Fragen zum Roman und seiner Entstehungsgeschichte stellte.
»Das Buch ist ein fiktionales Werk. Carolines Tagebücher haben mich zu der Arbeit angeregt. Alle Charaktere und Vorfälle habe ich so weit verfremdet, dass sie im Grunde nicht wiederzuerkennen sind. Eigentlich geht es nicht um konkrete Personen oder Ereignisse.«
»Wie praktisch.«
»Es stimmt!«, sagte Kate.
»Du Heuchlerin, du willst mir nur wehtun«, sagte Birdie, »etwas anderes hattest du nie im Sinn! Du willst dich rächen, weil ich in deinen Augen eine schlechte Mutter war.«
Das saß. Tränen schossen Kate in die Augen. Warum kannte ausgerechnet ihre Mutter sie so wenig?
»Mom, du irrst«, sagte sie. »Ich habe in meinem Leben schon vieles gewollt, aber rächen wollte ich mich nicht. Du hast immer dein Bestes versucht, so wie alle Eltern.«
Birdie stieß ein verächtliches Lachen aus.
»Oh, das ist köstlich«, rief sie, sagte aber dann nichts mehr.
Kate verstand nicht, was Birdie daran so lustig fand. Sie hatte vor langer Zeit aufgehört, auf Birdies spitze Kommentare zu reagieren, die ihr wohl vermitteln sollten, wie lächerlich, rücksichtslos oder peinlich sie sich benahm. Stattdessen fragte sie, was sie seit ewigen Zeiten beschäftigte.
»Warum bist du so wütend, Mom? Warum musst du dich immerzu über die anderen aufregen? Warum stößt du alle von dir und wunderst dich, wenn sie sich abwenden?«
Plötzlich schien es im Zimmer keine Luft mehr zum Atmen zu geben, und Birdie ließ den Kopf in die Hände sinken.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie, »ehrlich.«
Kate blieb keine Zeit, sich über diese Antwort zu wundern. Es klopfte an der Tür. Erschreckt sah Birdie sie an. Kate brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, dass jemand auf der Veranda stand. Zwei Personen, wie sie durch die Milchglasscheibe erkennen konnte.
»Wer ist das?«, flüsterte Birdie mit dünner, zittriger Stimme.
Kate stand auf, aber Birdie wollte sie zurückhalten. »Nicht«, sagte sie.
»Wir brauchen Hilfe.« Die Stimme einer jungen Frau, sie klang ängstlich und verzweifelt. »Unser Boot ist kaputt. Wir sind gestrandet.«
Kate griff zur Signalpistole, aber Birdie machte ihr ein Zeichen und flüsterte:
»Im Küchenschrank liegt ein Revolver.«
»Wer ist bei Ihnen?«, rief Kate, während sie in die offene Küche ging und die Waffe herausholte. Sie lag überraschend schwer in der Hand. Mit einem kurzen Blick überzeugte Kate sich, dass sie geladen war.
»Mein Verlobter«, rief die Stimme. »Bitte. Wir stecken in großen Schwierigkeiten. Unser Boot wird gleich sinken.«
Kate sah ihre Mutter an, die aufgestanden war und die Tür anstarrte. Birdie streckte die Hand aus, und Kate gab ihr den Revolver.
»Soll ich aufmachen?«, fragte Kate und sah die Unsicherheit in Birdies Augen.
»Wir haben keine Wahl«, sagte Birdie schließlich, »da sie nun mal auf der Insel sind.«
Kate wusste, wie das gemeint war. Der Ärger hatte bereits angefangen. Diese Leute hatten ihren Grund und Boden betreten, und nun mussten sie sich damit auseinandersetzen. Kate ging zur Tür und öffnete sie.
Zwei junge Leute Mitte zwanzig, nass und zitternd, standen auf der Veranda. Die junge Frau sah unglücklich und verängstigt aus. Der Mann trat nervös von einem Bein aufs andere und hatte einen verschlagenen Blick. Kate wusste sofort, dass er Probleme machen würde.
VIERUNDZWANZIG
N ach der Hausbesichtigung beschlich Sean das dringende Gefühl, auf der Stelle losfahren zu müssen. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass er zu seiner Mutter fahren, Brendan einpacken und sich unverzüglich auf den Weg machen sollte. Aber er hatte Kate versprochen, erst am Montag zu fahren, falls er müde war. Und er war hundemüde.
In der Nacht war er die Hausbesichtigung wieder und wieder in Gedanken durchgegangen und hatte kein Auge zugemacht. Er musste Getränke besorgen, Möbel umstellen, dekorieren und aufräumen. Wie ein Verrückter war er herumgerannt, um alles vorzubereiten, er hatte Schilder aufgestellt, seine bevorzugten Klienten angeschrieben und Interessenten angerufen, die ihm in der Vergangenheit eine Anfrage geschickt hatten. »Ein schöneres Haus hatte ich nie im Angebot«, sagte er unzählige Male. Es war die Wahrheit.
Um kurz vor vier war alles fertig, und er war aufgekratzt von zu viel Red Bull.
Weitere Kostenlose Bücher