Gedenke deiner Taten
Chelsea war tatsächlich nicht wie die anderen Mädchen – sie war ein Freak, eine Außenseiterin. Keiner wollte sie.
»Was ist los?« Auf einmal stand Lulu hinter ihr und legte ihr eine kalte Hand an den Rücken. Chelsea fuhr zusammen. »Wo ist deine Mom?«
»Ich glaube, sie will nur mal kurz nach meiner Großmutter sehen.«
Chelsea wandte den Blick nicht vom Fenster ab.
Lulu kam noch näher. Sie zitterte.
»Mir ist eiskalt.«
Chelsea beobachtete das Haupthaus. Der Schein von Kates Taschenlampe war nicht mehr zu sehen. Auch das Haus lag im Dunkeln. Die Atmosphäre war seltsam, so als hielte die ganze Insel den Atem an. Lulu zupfte an ihrem Ärmel, wollte sie vom Fenster wegziehen.
»Die kommt gleich wieder. Komm und kuschle dich mit mir ein«, sagte sie, »du musst mich wärmen.«
Sie verkrochen sich in Kates Bett. Lulus Haare rochen nach Erdbeeren, ihre Haut war samtweich. Als sie kleiner waren, hatten sie oft in einem Bett geschlafen, und Chelsea war es gewohnt, ihre Freundin dicht neben sich zu spüren. Sie hatten sogar Küssen geübt. Aber das war lange her. Keine sprach mehr davon; es war eine stille Übereinkunft. Irgendwie war es ihnen mittlerweile ein bisschen peinlich, fast schämten sie sich dafür. Aber damals hatten sie es gemütlich und schön gefunden. Es hatte nichts Sexuelles an sich gehabt, zumindest für Chelsea nicht. Aber wenn sie daran dachte, stieg ihr die Röte ins Gesicht.
»Hier ist es doof«, sagte Lulu in die Stille hinein. Sie klang traurig und müde.
Chelsea schwieg. Tja, das war wohl so, wenn man keinen Draht zu Heart Island hatte. Viele Menschen, die ihr nahestanden – Sean, Onkel Theo, eigentlich sogar ihr Vater –, konnten mit der Insel nichts anfangen. Hier zu leben war eben etwas ganz Spezielles . » Es ist wie eine Beziehung mit einem Drogenabhängigen«, hatte Theo einmal zu ihrer Mutter gesagt, »es ist sehr schön, wenn es gut läuft. Trotzdem überwiegen die Nachteile.«
»Wir sitzen hier fest«, sagte Lulu.
»Nein«, widersprach Chelsea, obwohl sie sich nicht sicher war. Offenbar hatten viele Besucher das Gefühl, auf Heart Island festzusitzen.
»Deine Mutter hat gesagt, die Wellen wären zu hoch«, sagte Lulu. »Wir können nicht mit dem Boot zum Festland fahren.«
Das wusste Chelsea auch. Allerdings hatte die Familie einmal bei einem heraufziehenden schlimmen Gewitter die Insel verlassen. Die Überfahrt war schrecklich gewesen. Sean hatte das Ruder so fest gehalten, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten, während eine Welle nach der anderen ins Boot schwappte. Chelsea und Brendan hatten sich an Kate festgeklammert, während sie in der Kombüse hin- und hergeworfen wurden.
Birdie hatte dem Sturm die Stirn geboten, war zurückgeblieben und eine Woche allein zurechtgekommen. Beim Abschied hatte Chelsea geweint. »Sie will es so«, hatte Kate ihr erklärt. »Das müssen wir akzeptieren.«
Chelsea hatte kein Verständnis gehabt. Bis heute begriff sie nicht, warum Birdie damals auf der Insel bleiben wollte. »Sie liebt Heart Island mehr als uns«, hatte Brendan in den Wind gebrüllt. Weder Kate noch Sean hatten darauf geantwortet.
»Irgendwann kommen wir weg«, sagte Chelsea. »Beruhige dich. Hier kann uns nichts passieren. Hier sind wir sicher.«
Lulu schnaubte.
»Klar, außer dass sich da draußen ein Geist oder ein Verbrecher herumtreibt.«
Chelsea schwieg. Lulus Panik war ansteckend. Vielleicht saßen sie tatsächlich fest. Vielleicht war es unmöglich, Hilfe herbeizurufen. Der Akku des Funkgeräts musste regelmäßig aufgeladen werden. Vielleicht hatte in der letzten Zeit niemand mehr daran gedacht, schließlich glaubten sie alle – fälschlicherweise –, der Netzempfang auf der Insel sei stabil.
Chelsea setzte sich auf und lauschte. Sie würde auf Kates Rückkehr warten.
Bevor ihre Mutter Lulu auf die Reise eingeladen hatte, wollte sie Chelsea unter vier Augen sprechen.
»Willst du wirklich, dass sie mitkommt? Oder soll ich ihr lieber absagen?«, hatte Kate gefragt.
Sie hatte mit übereinandergeschlagenen Beinen am Kamin gesessen. Chelsea war empört gewesen und hatte Lulu zunächst verteidigen wollen. Aber das Gefühl hatte sich schnell verflüchtigt. Hatte sie sich, wenn sie ehrlich war, darauf gefreut, eine Woche ohne ihre Freundin zu verbringen?
»Keine Ahnung«, sagte Chelsea, »doch, ich glaube schon, dass ich sie dabeihaben möchte.«
»Warum?«
»Weil sie sich ohne mich einsam fühlt.«
Kate presste die Lippen zusammen und sah
Weitere Kostenlose Bücher