Gedenke deiner Taten
ihre Tochter traurig an.
»Es ist nicht deine Aufgabe, Lulu zu bespaßen«, sagte sie. »Wäre es dir denn lieber, wenn sie dabei wäre?«
»Ja?«, antwortete Chelsea unsicher. Weil es nach einer Frage klang, runzelte Kate die Stirn.
»Sicher?«
»Ja.«
Das war nicht gelogen. Zumindest ihre Mutter hatte Chelsea nicht angelogen. Sich selbst vielleicht? Denn war sie nicht ein bisschen enttäuscht gewesen, dass ihre Mutter Lulu gleich zugesagt hatte?Und warum hatte sie ihrer Mutter das nicht längst gesagt? Immerhin konnte sie frei ihre Meinung äußern.
»Chaz?« Sanft strich Lulu ihr übers Haar.
»Ja?«
»Ich muss dir was sagen.«
Lulu klang verlegen und schüchtern, wie immer, wenn sie etwas Schlimmes verbrochen hatte.
»Was?« Chelsea machte sich auf etwas gefasst. Sie wusste nicht, was nun kommen würde. Genauso hatte Lulu geklungen, als sie ihr ihre Entjungferung gebeichtet hatte und den Joint.
»Dieser Junge … Adam McKee.«
»Ja?« O Gott. Chelseas Magen zog sich zusammen. Was würde Lulu jetzt sagen? Dass sie ihn kannte, dass sie mit ihm geschlafen hatte, dass er sie ebenfalls angeschrieben hatte und sie auch in ihn verliebt war?
»Er ist nicht echt«, sagte Lulu. »Er existiert gar nicht.«
»Wovon redest du?«
Aber noch während sie das sagte, begriff Chelsea. Natürlich war er nicht echt. Er war intelligent und höflich, einfühlsam, er interessierte sich für Kunst und Musik – so einen Jungen, der sie für cool und besonders hielt, konnte es nicht geben. Sie hätte es wissen müssen.
»Conner hat die Seite erstellt. Er hat dir diese Nachrichten geschickt.«
Das wiederum hätte Chelsea nie gedacht. Sie schämte sich fast zu Tode, und dann wurde sie wütend.
»Warum?« Ihre Kehle war so zugeschnürt, dass sie das Wort kaum herausbrachte.
»Er wollte, dass ich mich aus eurem Haus schleiche. Wir dachten, du machst vielleicht eher mit, wenn du selber eine Verabredung hast.«
Nur Lulu wusste, wie Chelseas Traummann aussah. Nur Lulu wusste, was Chelsea hören wollte. Chelsea war sprachlos. Die Wut und die Enttäuschung waren zu groß. Sie hatte Angst, in Tränen auszubrechen, deswegen schwieg sie lieber.
»Es tut mir leid«, sagte Lulu. »Conner hätte einen Freund mitgebracht – einen Jungen von einer anderen Schule. Wir dachten, vielleicht passt ihr zusammen.«
Chelsea blieb stumm. In Gedanken ging sie alle Nachrichten noch einmal durch, die sie geschrieben hatte. Was hatte sie von sich preisgegeben? Welche Geheimnisse hatte sie Lulu und diesem Arschloch Conner über sich verraten? Über ihren eigenen Eifer ärgerte Chelsea sich am meisten.
»Bitte sei mir nicht böse«, sagte Lulu, »ich hätte nie gedacht, dass du so auf ihn anspringst. Ich dachte, eigentlich machst du dir nichts aus Jungen.«
Chelsea räusperte sich.
»Tue ich auch nicht.«
Sie konnte selbst kaum glauben, wie kühl und gefasst sie klang. Immer schon hatte sie gut ihre Gefühle verbergen und in ihrem Herzen verschließen können. Es war ungefährlicher so. Niemand erfuhr, dass er die Macht besaß, sie zu verletzen. Als kleines Kind schon hatte sie gelernt, dass keiner, dem sie misstraute, sie weinen sehen sollte.
»Chelsea?«
»Nein, im Ernst.« Chelsea stieß ein ersticktes, gekünsteltes Lachen aus. »Ich hatte die ganze Sache schon fast vergessen.« Sie wusste, wie unglaubwürdig das klang, immerhin hatten sie noch kurz vor dem Zubettgehen über das Thema gesprochen.
»Ach, komm«, sagte Lulu, »es tut mir wirklich leid.«
Es gab Menschen, die kannten Chelsea gut – Sean, ihre Mutter, Lulu. Vor diesen Menschen wollte und konnte sie sich nicht verstellen. Dass sie sich nun von ihrer besten und ältesten Freundin distanzieren musste, tat umso mehr weh.
Lulu sah sie im Dunkeln an. Chelsea erkannte Lulus Haarschopf, die Rundung ihrer Schulter. Lulu legte ihre Hand auf ihren Arm. Bei der Berührung zuckte Chelsea zusammen, und ihre Stimmung verfinsterte sich.
»Wirklich«, sagte sie, »ist alles halb so wild. Ich bin anders als du, ich bin keine Schlampe, die mit jedem dahergelaufenen Typen was anfängt.«
Am liebsten hätte sie diesen Satz sofort zurückgenommen. Aber die Worte waren ausgesprochen, zerrissen die Luft und schnitten beiden ins Herz. Lulu stand wortlos auf und schlich aus dem Zimmer. Noch nie im Leben hatte Chelsea sich so allein gefühlt.
DREIUNDZWANZIG
E milys Erschöpfung war wie ein schweres Gewicht, das sie mit sich herumschleppte. Noch nie zuvor hatte sie sich so sehr nach Schlaf
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