Gedenke deiner Taten
»Daddy?«
»Hey, Kleines«, sagte Sean. Er war überglücklich, sie zu sehen. »Was ist los bei euch? Ich habe den ganzen Abend versucht, euch zu erreichen.«
»Dad, hör mir zu«, sagte Chelsea und rutschte an ihren Laptop heran. Sie betrachtete den Bildschirm, nicht die Kamera, so dass es für Sean so aussah, als blicke sie nach unten. Sie klang seltsam.
»Dad«, sagte sie, »da ist jemand auf der Insel. Ich habe Leute zum Haupthaus laufen sehen. Wir stecken in Schwierigkeiten.«
»Chelsea, was erzählst du da?«, fragte er. Erlaubte sie sich einen Scherz? Es war wie in einem Traum. »Du machst mir Angst!«
»Ich bin vom Krach aufgewacht, und dann bin ich ans Fenster gegangen«, erklärte sie. »Ich habe Mom zum Haupthaus gehen sehen, und kurze Zeit später liefen zwei Leute hinter ihr her. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Unsere Handys funktionieren nicht. Aber dann habe ich den Internetstick gefunden, den du mir mitgegeben hast, und Skype gestartet. Soll ich hinterhergehen?«
»Nein, nein!«, rief Sean. Er spürte den Adrenalinstoß, und panische Angst befiel ihn. »Bleib dran. Sag mir, was du gehört hast. Ich werde die Polizei anrufen.«
Er tastete nach dem Telefon. Wo war es? Es war zu Boden gefallen.
»Daddy? Hier ist ein Gewitter aufgezogen, aber ich glaube nicht, dass ich nur den Donner gehört habe. Was soll ich tun?«
»Hör zu …«
»Bist du noch da?« Sean sah, wie Chelsea ihren Laptop hochnahm und schüttelte. »Ich kann dich nicht mehr hören.«
»Verdammt.«
»Dad«, sagte Chelsea, »ich habe Angst. Hier stimmt was nicht.«
In der nächsten Sekunde erstarrte das Bild. Auf dem Monitor erschien eine Warnmeldung: »Verbindung unterbrochen.«
FÜNFUNDZWANZIG
R oger Murphy schlief immer wie ein Stein. Früher hatte er sich um zehn Uhr abends neben seine Frau Lydia ins Bett gelegt und war exakt acht Stunden später in derselben Position wieder aufgewacht, auf dem Rücken und mit beiden Armen hinter dem Kopf. Aber seit seine Frau vor zwei Jahren nach langem Kampf gegen den Krebs gestorben war, hatte er eine neue Mitbewohnerin: die Schlaflosigkeit. Er hatte die Nacht neu kennengelernt. Als Lydia noch da war, lebte er sein Leben am Tage, so wie alle anderen auch. Seit ihrem Tod schlich er Nacht für Nacht durchs Haus oder betrachtete alte Fotos, Postkarten und Briefe, bis der Morgen graute. Was er nach Lydias Fortgang durchmachte, ließ sich mit dem Wort Trauer nicht beschreiben. Roger fühlte sich halbiert, ausgehöhlt. Er war ein lebender Toter.
Er war erleichtert, ihretwegen, als Lydia endlich starb. Die Krankheit hatte ihr Leben bestimmt und ihr Haus in eine Krankenstation verwandelt. Auf allen Regalen und Kommoden lagen Tablettenpackungen, Bücher zum Thema Krebs, Meditations-CDs und homöopathische Mittelchen. Später kamen Morphinampullen dazu, die er Lydia spritzen musste. Es war das letzte Aufgebot im Kampf gegen die Schmerzen.
Als sie ihren Atem aushauchte, war er so erleichtert gewesen, dass sie nun nicht mehr leiden musste, dass er sich für ein paar Stunden tatsächlich für sie freute. Sie hatte eine wunderbare Reise angetreten, und in seiner Erleichterung hatte er kurzzeitig vergessen, dass sie ihn allein zurückgelassen hatte. Zwei Tage lang spielte er mit dem Gedanken, ihr zu folgen. Aber letztendlich war er zu feige, hing zu sehr an seinem mittlerweile sinnlosen Leben. Immer war sie die Mutigere von ihnen beiden gewesen, die Draufgängerin und Abenteurerin. Fallschirm springen, Berge besteigen oder Achterbahn fahren. »Du bist mein Fels in der Brandung«, hatte sie gesagt, »mein sicherer Hafen.« Sie hatten keine Kinder. Es war nicht dazu gekommen, und sie hatten sich nicht um Ursachenforschung bemüht. Auch darüber war er froh. Gut, dass sie bei ihrem Tod nicht noch ein Wesen hilflos und traurig und mit der Frage zurückließ, warum das Leben für den Rest der Welt einfach so weiterging. Gott weiß, er wäre einem trauernden Kind wahrlich keine Stütze gewesen.
Mittlerweile saß er seine Zeit nur noch ab. Er hatte genug gearbeitet und konnte jederzeit in Rente gehen. Seine Vorgesetzten warteten nur darauf. In seinem Alter stellte er für die Kollegen fast ein Risiko dar. Er war Mitte sechzig und außer Form. Aber niemand kannte den Bezirk und die Inseln so gut wie er. Außerdem saß er ohnehin die meiste Zeit am Schreibtisch. Und welche Struktur hätte sein Leben ohne die Arbeit noch gehabt, nun, wo Lydia nicht mehr war?
Wurden sie wegen eines Einbruchs
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