Gedenke deiner Taten
gerufen, übernahmen die jungen Kollegen den Einsatz. Neulich hatten sie es mit einem bewaffneten Überfall und mehreren Beschwerden wegen Ruhestörung zu tun gehabt. In dieser kleinen Gemeinde gab es kaum Kriminalität. Die jüngeren Polizisten saßen ihre Zeit ab, bis sie in einen spannenderen Bezirk versetzt wurden. Den Einsatz auf Heart Island hatte er nur übernommen, weil er Birdie Heart seit Ewigkeiten nicht gesehen hatte. John Cross hatte ihm durch die Blume zu verstehen gegeben, dass keine ernstliche Gefahr bestand; aber Roger stellte sich auch für solche Notrufe gern zur Verfügung.
Seit er nicht mehr schlafen konnte, hatte er zu lesen angefangen. Weil es in der Gegend keinen anständigen Buchladen gab, bestellte er die Bücher über das Internet. Neben dem großen Lehnsessel am Kamin stapelten sich die Bücher. Lydia hatte ihn immer gebeten, den scheußlichen alten Sessel zu entsorgen. Der braune Bezug war potthässlich, die Polster hatten seine Körperform angenommen, weil er darin immer döste. Lydia hatte behauptet, das Ding stinke, was Roger allerdings nie bemerkt hatte.
Seit Lydias Tod verbrachte er die Nächte in diesem Sessel und las Bücher von Lee Child, George Pelecanos, Stephen King und Elmore Leonard. Er mochte Klassiker wie Ross Macdonald, James Lee Burke und Raymond Chandler. Er bevorzugte leichte, düstere Männerliteratur mit schönen Frauen und Schusswaffen. Gegen Patricia Highsmith hatte er auch nichts einzuwenden. Sie war zwar eine Frau, schrieb aber wie ein Mann. Er griff zu Büchern, um woanders zu sein als hier in diesem Haus.
Er hatte fast alle Bücher von Richard Cameron gelesen. Der Autor hatte den Sommer auf jener Insel verbracht, die heute John Cross gehörte. Roger konnte sich an Richard erinnern, den er damals für einen komischen Kauz gehalten hatte. Cameron war äußerst wortkarg gewesen und hatte dem jungen Roger, der die Boote betankte, kein einziges Mal ein Trinkgeld gegeben.
Gerüchten zufolge hatte er ein Verhältnis mit der Frau von Heart Island. Roger hatte davon nie etwas bemerkt und versucht wegzuhören. Als man Camerons Leiche fand, war die Gerüchteküche natürlich übergekocht. Manche Leute behaupteten, Jack und Lana Heart seien im Winter mit verschiedenen Booten zur Insel hinausgefahren. Man vermutete, dass ihr Besuch mit Camerons Tod in Verbindung stand.
Damals war Roger aufs College gegangen und hatte nichts davon direkt miterlebt. Die Leute redeten zu viel und dachten zu wenig nach – diesen Satz hatte er einmal irgendwo gelesen und zu seinem Motto erkoren. Die Leute langweilten sich und suchten das Drama. Roger hatte John Cross von den damaligen Gerüchten erzählt, aber nur weil das keinen mehr interessierte. John Cross hatte ihn mit Fragen bombardiert, und Roger hatte bereitwillig Auskunft gegeben. Er verstand nicht, warum Cross an dem Thema so interessiert war. Manche im Ort behaupteten, Cross sei ein entfernter Verwandter von Cameron. Roger gegenüber hatte Cross das nie erwähnt.
Die Hearts hatten immer schon im Mittelpunkt des Interesses gestanden. Caroline und Birdie waren die hübschesten Mädchen, die Roger je gesehen hatte. Ihre Mutter Lana sah mit den gewellten Haaren und roten Lippen wie ein Filmstar aus. Wie zwei liebreizende Schmetterlinge tanzten die Mädchen um ihren älteren und viel größeren Bruder Gene herum. Jack, der Vater, verteilte großzügige Trinkgelder und sprach mit fröhlicher, dröhnender Stimme. Jedermann liebte die Hearts. Sie ließen viel Geld in der Stadt und waren immer freundlich, anders als andere New Yorker Sommergäste. Die Leute mochten glauben, dass das Ehepaar in den Tod von Richard Cameron verwickelt war – der Polizei erzählte aber niemand davon. Richard Cameron war ein deprimierter Säufer gewesen. Als er umkam, war niemand in Blackbear überrascht oder traurig.
Roger hatte soeben Ross Macdonalds Unter Wasser stirbt man nicht aufgeschlagen, als das Telefon klingelte. Es war ein Uhr nachts. Roger wusste nicht mehr, wann man ihn zuletzt mitten in der Nacht angerufen hatte. Unter Mühen stemmte er sich aus dem Sessel, um das Gespräch anzunehmen.
SECHSUNDZWANZIG
E s war schön, zu einem heißen Tee eingeladen zu werden. Emily fühlte sich so wohl, dass sie fast Brad vergaß, der draußen lauerte.
Emily konnte sich an dieses Haus nicht erinnern. Als sie die Insel als Kind besucht hatte, hatte sie woanders übernachtet. Verstohlen betrachtete sie Kate, die ganz unübersehbar Joe Burkes andere Tochter
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