Gedenke deiner Taten
kreischten, in der Ferne brummte der Generator.
»Willst du allen beweisen, was für ein Monster du bist?«, fragte Joe.
»Das ist lächerlich«, schimpfte Birdie und marschierte beleidigt davon. Ihre großen Füße stampften über den Anleger, ihr Rücken war so gerade wie ein Ausrufezeichen. Sie rief: »Ich bin ein Monster, weil ich nicht möchte, dass meine Tochter wehleidig wird und nichts aus ihrem Leben macht.«
Joe half Kate auf die Beine, wickelte sie in ein Handtuch und begleitete sie zum Haus. Wie alt war sie damals gewesen? Zehn Jahre vielleicht.
»Was ist passiert?«, fragte er sie.
»Sie hat mich geschubst.«
»Ich weiß«, sagte er, »aber warum bist du nicht an Land geschwommen?«
Kate wusste keine Antwort. Sie war ratlos. Das Wasser hatte so schwarz und tief ausgesehen. Sie hatte gefürchtet, hinabgezogen zu werden.
»Ich weiß nicht«, sagte sie, »ich hatte Angst.«
»Bist du dir sicher, dass du sie nicht ärgern wolltest?«, fragte er mit sanfter Stimme. »Vielleicht bist du nur deswegen nicht geschwommen, weil sie es verlangt hat.«
»Nein«, wiederholte sie hartnäckig. Aber schon damals hatte sie sich gefragt, ob an seiner Frage nicht etwas Wahres dran war. »Ich hatte Angst.«
Sie zitterte vor Kälte. Ihre Hände waren blau angelaufen, sie hatte eine Gänsehaut. Unter den nackten Fußsohlen spürte sie die warmen Planken, die von Flechten überzogenen Steine.
»Okay, Kleines«, sagte Joe, »ist schon gut.«
Vor dem Haus kniete er nieder, um ihr eine nasse Haarsträhne aus der Stirn zu streichen. »Sie liebt diese Insel, und sie möchte, dass du sie genauso liebst. Sie möchte, dass du dich um die Insel kümmerst, wenn sie eines Tages nicht mehr lebt.«
Aber obwohl sie ein Kind von zehn Jahren war, wusste Kate, dass ihr Vater zu entschuldigen suchte, was unentschuldbar war. Er wollte den Vorfall verharmlosen.
»Sie liebt die Insel mehr als alles, sogar mehr als uns.«
»Das stimmt nicht«, sagte er und wurde plötzlich ungehalten. »Geh jetzt und zieh dich um, das Essen ist gleich fertig.« Er drehte sich um und schaute zum Anleger hinunter. In dem Moment hatte Kate wieder den Eindruck, dass es für sie keine verlässliche Zuflucht gab, keinen Ort, an dem sie sich ausruhen konnte und Trost fand. Sie hatte diesen Ort erst bei Sean gefunden.
Sie schob sich ums Haus herum und hörte einen spitzen Schrei. Vor Schreck drückte sie sich an die Holzschindeln. Ihr Herz fing zu rasen an, ihr Mund wurde trocken. Als sie um die Ecke spähte, erkannte sie im trüben Licht der Verandalampe zwei Gestalten – eine Frau und einen Mann. Der große Mann griff sie an, hatte seine Hände um ihren Hals gelegt. Die Arme und Beine der Frau flogen kraftlos herum, offenbar versuchte sie zu entkommen. Ihre Hilflosigkeit weckte Kates Beschützerinstinkt, einen übermächtigen Wunsch zu helfen.
Sie erkannte die junge Frau, die sich ihr als Anne vorgestellt hatte. Sie wirkte so klein und zart wie ein Mädchen. Kate erinnerte sich, wie kräftig und brutal der große Mann war. Er hatte sie am Strand überfallen. Wieder spürte Kate den Druck seiner Arme auf ihrem Brustkorb.
Ohne nachzudenken, stürzte sie sich auf den Mann. Sie riss ihn mit sich, fiel zu Boden, rollte gegen einen Baumstamm. Sie spürte einen stechenden Schmerz in der Seite, aber das Adrenalin betäubte ihn sofort. Wieder war der Mann über ihr, schien sie wie ein schwerer Fels zu erdrücken.
Sie hörte die Frau schreien. Geh runter von ihr! Geh runter von ihr! Die Aufforderung erschien Kate unsinnig; der Mann würde kaum freiwillig von ihr heruntersteigen, um sich auf eine Diskussion einzulassen. Sie rang nach Luft, und die Panik trübte ihren Blick. Das Mädchen warf sich auf den Angreifer und riss ihn zur Seite. Kate sah die Signalpistole am Boden liegen und kroch darauf zu. Sie hatte sie kaum gepackt, als das Monster sie erneut angriff und mit vollem Körpergewicht zu Boden drückte. Sie spürte, wie ihr Kopf gegen einen Stein schlug. Eine Sekunde lang flogen alle Eindrücke durcheinander, wie bei einem Puzzle aus Klang und Bewegung. Das Geschrei der Frau, sein Atem in ihrem Gesicht, der Geruch nach Schweiß und Blut und Regen. Sie hörte ein Ploppen und Zischen und wurde von einem orangen Blitz geblendet. Dann wurde alles dunkel.
DREISSIG
J oe Burke hatte vor so vielen Jahren aufgehört, seine Frau zu lieben, dass er nicht mehr wusste, wie er jemals etwas anderes als Gleichgültigkeit hatte empfinden können. Selbst wenn er an ihr
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