Gedenke deiner Taten
gemeinsames Leben zurückdachte, an den Abend der ersten Begegnung, konnte er sich nicht an sein Gefühl von damals erinnern.
Als er sie zum ersten Mal erblickte, strahlte sie eine Kraft aus, die ihn magisch anzog. Ihre großbürgerliche Art, ihre schlanke Figur, ihre Klugheit und ihr Pragmatismus gefielen ihm. Sie war anders als die anderen Frauen, machte sich nichts aus Parfum, Make-up und Krinolinen. Birdie hatte so ein durch und durch strahlendes Lächeln. Sie vertrat ihre Meinung, hatte eigene Gedanken und Ideen, mit denen sie nicht hinter dem Berg hielt, um anderen zu gefallen. Ihre ganze Existenz forderte ihn heraus. Komm und fang mich, wenn du dich traust. Und Joe Burke war kein Mann, der vor Herausforderungen kniff.
Sie war die Richtige, jedenfalls in den Augen seiner Eltern. Sie war attraktiv, stammte aus gutem Hause, würde erben. Mit ihr heiratete er »nach oben«, wie seine Mutter es ausdrückte. Natürlich hatten seine Mutter und Birdie sich vom ersten Augenblick an gehasst, denn Joes Mutter ließ sich von allen als Fußabtreter benutzen. Ihr Mann hatte die Kinder geschlagen, seine Frau nach Strich und Faden betrogen und sie zu früh ins Grab gebracht. Auf keinen Fall zählte Joe zu jenen Männern, die eine Kopie der eigenen Mutter heiraten wollten. Er sehnte sich nach einer interessanten, starken Frau, die ihm ebenbürtig war. Dabei übersah er, dass Birdie, obgleich sie alle seine Kriterien erfüllte, ein kalter, verschlossener Mensch war. Er bemerkte es erst nach der Eheschließung. Und aus einer Ehe, so lautete seine Überzeugung, stieg man nicht mehr aus. Man dehnte und verbog das Versprechen, aber man brach es nicht.
Nach Seans Anruf konnte er nicht wieder einschlafen. Birdie war auf ihrer geliebten Insel, und er bemitleidete die Idioten, die es gewagt hatten, sie zu stören. Falls das überhaupt stimmte. Dann wiederum verfügten Kate und Chelsea nicht über Birdies Zähigkeit. Sie gehörten nicht mit Haut und Haaren nach Heart Island. Chelsea war ein vernünftiges Mädchen; wenn sie Alarm schlug, musste an der Sache etwas dran sein.
Joe war an diesem Tag schon einmal gestört worden. Dabei hatte er sich so gefreut, wieder in der lauten, hektischen Stadt zu sein. Die Stille auf Heart Island erdrückte ihn. Anfangs war sie angenehm, aber nach und nach belastete sie ihn. Die Ruhe, die Abgeschiedenheit, Birdies endlose Liste von Forderungen und Beschwerden, ihr ohrenbetäubendes Schweigen.
Obwohl Martha ihn seit Jahren nicht mehr anrief, erkannte er ihre Nummer auf Anhieb. Sie war ihm ins Gedächtnis gebrannt. Wie oft hatte er diese Nummer gewählt, atemlos vor Gier. Ihre Stimme hatte ihm so viel Trost und so viel Freude gespendet – und am Ende so viel Kummer gebracht. Er wollte das Gespräch zunächst nicht annehmen. Sicher hatte sie ihm schlechte Nachrichten mitzuteilen. Warum sonst rief sie ihn nach so vielen Jahren an?
»Joe?« Ihre Stimme klang älter, rauchiger. Er erinnerte sich, wie jung und hell sie früher gewesen war. Martha war alles gewesen, was Birdie nicht war – weich, nachgiebig, dankbar. Er erinnerte sich an ihren schlanken Körper, ihre samtweiche Haut. Sogar jetzt, Jahrzehnte später, erregte ihn allein der Gedanke.
»Martha«, sagte er. Früher hatte er sie Martie genannt, ein Spitzname, der gut zu ihr passte. »Warum rufst du an?«
Sie holte tief Luft.
»Emily steckt in schrecklichen Schwierigkeiten.«
Er erinnerte sich an Marthas kleine Tochter, so ganz anders als Kate. Er hatte immer gewusst, dass Emily nicht sein Kind war, aber er hatte gute Miene zum bösen Spiel gemacht und es genossen, mit den beiden zusammen zu sein, als wären sie eine Familie. Sie hatten ihn vergöttert und gebraucht. Für Birdie war er, glaubte er zumindest, ersetzbar. Für Kate natürlich nicht. Nach ihrer Geburt hatte er Kate in die Augen gesehen und das Gefühl gehabt, sie seit Ewigkeiten zu kennen. Ja, er hatte Emily – meine kleine Em, so hatte er sie genannt – geliebt, aber er hatte immer gewusst, dass sie nicht seine Tochter war. Er konnte sie lieben, weil sie so an ihm hing.
»Was für Schwierigkeiten?«
Martha erzählte es ihm. Joe konnte es nicht fassen. Er war bestürzt und fühlte sich schuldig.
So als spüre sie sein schlechtes Gewissen, sagte Martha sofort:
»Sie hätte einen Vater gebraucht.«
»Ich bin nicht ihr Vater, Martha.«
»Du hättest für sie einer sein können.«
Die alte Wut stieg in ihm auf, und seine Kehle schnürte sich zu, wenn er daran dachte, was
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