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Gedenke deiner Taten

Gedenke deiner Taten

Titel: Gedenke deiner Taten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Unger
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Bislang hatte sie schon viele herbe Enttäuschungen wegstecken müssen, aber diese eine war zu viel. Wer war sie ohne diese Illusion? Ohne die Erinnerung an Joe, ohne diesen magischen Ort existierte in ihrem Leben nichts mehr von Wert. Es war zu einem Häuflein Asche zusammengefallen.
    »Offenbar hat das Geld Ihrer Mutter gereicht«, sagte Birdie und spielte an dem Medaillon herum, das an einer Kette um ihren Hals hing. »Wir haben nie wieder von ihr gehört. Es war wohl das Beste für uns alle, und mir blieb jede weitere Demütigung erspart.«
    »Er will uns nicht«, hatte Martha gesagt, »er will dich nicht mehr sehen.« Die ganze Zeit war Emily mit der Vorstellung durchs Leben gegangen, ihr Vater hätte sich von ihr abgewandt. Dieser Eindruck hatte eine Leere in ihrem Herzen hinterlassen, die sie immerzu vergeblich zu füllen suchte. Nur deswegen war sie nach Heart Island gekommen. Sie hatte gehofft, er würde sie von der Schuld befreien, die sie auf sich geladen hatte.
    »Was wollen Sie hier?«, fragte Birdie plötzlich, als könnte sie Gedanken lesen, »was haben Sie sich erhofft? Dass wir Sie in die Familie aufnehmen?«
    »Ich habe gar nichts gehofft«, sagte Emily schwach. Es klang lächerlich. Sie fühlte sich wie eine Schulschwänzerin, die zur Schuldirektorin gerufen wird, oder wie eine Diebin, die einer Millionärin einen kostbaren Ring gestohlen hat. Sie hatte aus gutem Grund gehandelt, zumindest war es ihr in dem Moment so vorgekommen. Aber in der Rückschau, unter der Lupe der Richterin erwiesen sich ihre Beweggründe als falsch und lächerlich.
    Emily stand auf, und Birdie wich zurück. Die alte Frau wirkte verunsichert. Offenbar hatte Birdie Angst, weil sie Emily nicht einschätzen konnte. Und dieser Gedanke jagte wiederum Emily Angst ein.
    Auf dem Tisch lag die Signalpistole. Sie war groß und schwer und sah wie ein Spielzeug aus. Emily stürzte sich darauf. Die alte Frau stand auf und wich zurück.
    »Ich tue Ihnen nichts«, sagte Emily und betrachtete die Pistole in ihrer Hand, »das habe ich nie gewollt.«
    »Wie beruhigend«, bemerkte Birdie.
    Emily hörte ein Geräusch, einen lauten Knall, der anders klang als das Donnergrollen und der den Wind und den Regen übertönte. Emily war entsetzt. Was hatte er getan?
    Sie ließ die verschreckte, verlogene alte Frau stehen und flüchtete aus dem Haus. Der Regen klatschte ihr ins Gesicht. Emily rutschte auf dem glitschigen Steinpfad aus und landete so hart auf dem Rücken, dass ihr für einen Augenblick die Luft wegblieb. Noch während sie atemlos am Boden lag, löste sich eine Gestalt aus den Bäumen.
    »Was hast du mit ihr gemacht?«, schrie Emily, »was hast du vor?«
    Er beugte sich vor und riss sie hoch. Sie stieß einen wütenden Schmerzschrei aus und versuchte, seine Hand abzuschütteln. Dann erst merkte sie, dass sie nicht mit Dean rang, sondern mit Brad.
    In seinem Gesicht spiegelte sich die geballte Hässlichkeit ihres Lebens wider. Er erlöste sie von dem Anblick, indem er sie packte und zum Haus zurückschleifte. Sie konnte sich nicht wehren; ihre Schläge und Tritte schienen einen dicken, unbeweglichen Baumstamm zu treffen.
    »Wer ist im Haus?«, raunte er ihr ins Ohr.
    »Niemand«, schrie sie, »da ist niemand!«
    »Unsinn!«
    Er packte sie beim Schopf, und ihre Kopfhaut brannte vor Schmerz. Sie hatte das Gefühl, bei vollem Bewusstsein skalpiert zu werden. Trotzdem gab sie nicht auf und bohrte beide Absätze in die Erde. Schließlich stieß er sie zu Boden, und noch einmal presste der Schlag ihr die Luft aus den Lungen. Sie schnappte nach Luft, als er sich auf sie fallen ließ.
    »Du weißt, wo der Safe ist«, knurrte er drohend. Seine Knie zerquetschten fast ihre Armbeugen. Emily schrie voller Panik: »Geh runter von mir!«
    »Sag mir einfach, wo der verdammte Safe ist!«, sagte Brad genervt. Er schnappte selbst nach Luft. »Diese Leute können dir doch egal sein.«
    »Okay«, sagte Emily, »ich führe dich hin.« Sie log. Sie wusste nichts von einem Safe. Da sah sie es wieder, sein hässliches, boshaftes Lächeln.
    »Ich habe dich auf den ersten Blick durchschaut.«
    Die Worte sogen ihr alle Kraft aus den Muskeln. Ihr Leben lang hatte sie gekämpft, war gegen den Strom angeschwommen, der sie ins Land der Hoffnungslosen und der Verlierer tragen wollte. Sie hatte immer daran geglaubt, irgendwann ein besseres Leben zu führen. Aber nein. Hier war sie nun, auf der Insel, die sie für ein Paradies gehalten hatte und die sich als die reinste

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