Gedenke deiner Taten
hob nicht den Kopf, als Birdie ins Schlafzimmer ging. Andernfalls hätte er die Tränen in ihren Augen gesehen.
SIEBEN
D a war es wieder, das Gefühl. Emily spürte eine wachsende Nervosität, eine Art Panik, die sie verleitete, Dummheiten zu sagen und alles fallen zu lassen.
Der Erlös der Medikamente war mager ausgefallen. Das Fläschchen Adderall, ein ADHS -Amphetamincocktail, und das Fläschchen Ativan hatten ihnen je fünfzig Dollar eingebracht, fünf pro Tablette. Der Rest der Beute hatte aus abgelaufenen, wertlosen Antibiotika bestanden. Für OxyContin hätten sie zwanzig Dollar pro Pille eingestrichen. Mit Morphinampullen für Krebspatienten hätte Emily den Jackpot geknackt. In der Vorstadt bekam man für so eine Ampulle locker fünfzig Dollar. Ehrlich gesagt hatte Emily nur ein einziges Mal Morphin gefunden. Es war zu selten.
Sie hatte im Auto vor dem Doppelhaus gewartet, als Dean und Brad die Medikamente zu Deans Dealer brachten. Das Haus wirkte ganz unscheinbar, das Viertel ähnelte jener Arbeitergegend, in der Emily wohnte.
Vor dem Haus wucherten Büsche, vor der Tür lag eine Willkommen-Fußmatte. Der Aufkleber im Fenster verriet der Feuerwehr im Notfall, in welchem Zimmer sich die Kinder aufhielten. Auf dem Rasen stand ein Sandkasten in Froschform, in der Einfahrt lag ein umgekipptes Dreirad. Nie im Leben wäre man darauf gekommen, dass hier ein Dealer wohnte. Vor dem Haus stand ein Minivan, auf der Rückbank zwei Kindersitze. Nur die Ölflecken auf der Straße verrieten, dass hier oft Schrottautos parkten. Die Leute hielten kurz, um Drogen zu kaufen oder zu verkaufen, und hinterließen unauslöschliche Spuren auf dem Asphalt.
Dean hatte den Zündschlüssel abgezogen, aber sie wollte ihn nicht zurückrufen, nur damit sie Radio hören konnte. Sie wollte Brads Blick nicht auf sich lenken. Sie konnte sein hässliches Grinsen nicht mehr ertragen.
Die beiden blieben eine Ewigkeit weg. Emily musste eingedöst sein, denn als die Haustür zuschlug, fuhr sie hoch. Sie entdeckte die zwei vor dem Haus und sah sofort an Deans mürrischer Miene und den hochgezogenen Schultern, wie unzufrieden er war. Es war schlecht gelaufen. Auf der Rückfahrt wechselten sie kein Wort.
Nun waren sie wieder zu Hause. Brad saß auf dem Sofa, hatte die Füße auf Emilys Tischchen gelegt und sich die Bierdose zwischen die Beine geklemmt. Mit großem Interesse verfolgte er eine Heimwerkersendung. Oder war er bloß high? Emily hatte gesehen, wie er heimlich eine Pille eingeworfen hatte. Wer wusste schon, was er alles intus hatte? Seine gelben und fauligen Zähne sahen aus wie die eines Crystal-Meth-Junkies. Meth-Mund, so nannte man das.
»Hör mal, Em«, flüsterte Dean und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Sie standen in der Küche. Er hatte Pizza und eine Literflasche Pepsi bestellt, weil Brad hungrig war. Warum gab er das Geld, das er so dringend benötigte, gedankenlos aus? »Wir werden den Typen nur los, wenn wir ihm Bares geben.«
»Wie viel haben die Tabletten eingebracht?«, fragte sie.
»Zweihundert.« Er hatte mehr Medikamente verkauft als die, die Emily geklaut hatte. Vermutlich stammten sie aus der anderen Hausbesichtigung, zu der Emily ihn nicht hatte begleiten können, weil sie ins Blue Hen musste. »Ich habe ihm alles gegeben.«
»Okay«, sagte sie. »Du musst mir endlich sagen, wie viel du ihm schuldest.«
Dean schaute kurz an die Decke und dann in Emilys Gesicht. Er trat von einem Bein aufs andere, wie immer, wenn er angespannt war.
»Zweitausend.«
Emily schnappte nach Luft.
»So viel habe ich nicht! Das weißt du.«
»Wer hat das schon?«
In diesem Moment hatte das Gefühl eingesetzt. Es war, als stünde sie am Strand und sähe eine Riesenwelle auf sich zukommen. Die Wasserwand schob sich unaufhaltsam heran. Emily konnte weder fliehen noch den Wassermassen standhalten.
»Keiner.«
Dean verdrehte die Augen.
»Ach, komm schon.«
Sprach er von ihrer Mutter?
»So viel würde sie uns niemals geben«, sagte sie. »Seit du eingezogen bist, schießt sie mir zur Miete nichts mehr dazu. Sie redet nicht mal mehr mit mir.«
»Ich spreche nicht von deiner Mutter.« Sein stahlblauer Blick durchbohrte sie. Früher hatte sie ihn für den schönsten Mann der Welt gehalten. Und für den romantischsten und nettesten. Eigentlich war er das immer noch. Oder nicht?
»Von wem dann?«, fragte sie.
Er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar, strich sich eine Strähne hinters Ohr. Er wollte sich wohl von seiner
Weitere Kostenlose Bücher