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Gedenke deiner Taten

Gedenke deiner Taten

Titel: Gedenke deiner Taten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Unger
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als Manhattan Girls, die mit den New Yorker Randbezirken nichts mehr zu tun hatten. Sie waren gebildet, gingen arbeiten und wohnten in kleinen Apartments im Greenwich Village oder an der Upper East Side. Damals war es noch die Regel, dass der Mann im Restaurant bezahlte, und so konnte eine junge Frau, bis sie sich einen Ehemann geangelt hatte, ein angenehmes Leben führen. Für manche war das New York der sechziger Jahre der reinste Selbstbedienungsladen.
    Wenn Birdie an jenen Abend zurückdachte, fielen ihr zuerst die vielen Lichter ein – Weihnachtsbäume, Pailetten, schimmernde Lippen und perlender Champagner. Eine Jazzband spielte hippe Versionen bekannter Weihnachtslieder. Und dann erblickte sie Joe, der alle anderen Männer überragte. Er gehörte nicht dazu, das sah sie auf den ersten Blick. Er benahm sich nicht anders als die anderen, machte aber den Eindruck, als stünde er über den Dingen. Bei Gesprächen kniff er die Augen zusammen, so als sei er amüsiert – oder angewidert. Birdie konnte es nicht einordnen. Sie war fasziniert.
    Als er sie zum ersten Mal ansah, musste sie nach Luft schnappen. Damals war Birdie schön gewesen. Sie hätte widersprochen, aber heute, wenn sie die alten Fotos betrachtete, musste sie es zugeben. Sie war schlank und dennoch stark gewesen. Das scharlachrote Kleid, die roten Lippen – Joe behauptete immer, sie hätte ihn verzaubert. Er ließ seinen Gesprächspartner stehen und ging auf sie zu, so als werde er von einer unsichtbaren Schnur durch die Menge gezogen. Die Männer starrten ihm nach und fingen zu lachen an. Joan, Patty und Belle kicherten und tuschelten und zogen sich diskret zurück. Die Band schmetterte ein fröhliches »Jingle Bells«. In dem Augenblick fühlte sich Birdie so leicht und unbeschwert wie seit Wochen nicht mehr.
    »Sie sind viel zu hübsch, um in unserer Firma zu arbeiten«, sagte Joe. Damals galt so eine Bemerkung als charmant.
    Was hatte sie geantwortet? Sie wusste es nicht mehr. Sie erinnerte sich nur an ein Gefühl. Er war groß und stark. Ein Ehrenmann. Er würde sich um sie kümmern. Sie las es ihm vom kantigen Kinn, von den kräftigen Fingerknöcheln, dem breiten Nacken ab. Vor Erleichterung wurde ihr schwindlig. Zum ersten Mal im Leben fühlte sie sich geborgen, und sie verwechselte die Empfindung mit Liebe auf den ersten Blick. Damals hatte sie noch keine Ahnung von Liebe und Ehe, vom Leben.
    »Teddy hat angerufen«, sagte Joe. Er schenkte ihr einen Kaffee ein, rührte Kaffeesahne hinein. Er wusste genau, wie sie ihren Kaffee am liebsten trank.
    »Er wird nicht kommen.« Joe wollte unbeschwert klingen, aber sie merkte ihm seine Wut an.
    Er trug einen blau-weiß gestreiften Morgenmantel, sein Haar war vom Schlaf zerzaust. Er hatte sich nicht rasiert. Als sie jünger waren, hatte sie ihn morgens sehr sexy gefunden, so unrasiert, ungekämmt und nackt. Inzwischen sah sie ihn mit anderen Augen.
    »Ach, wirklich?« Sie spürte einen schweren Kloß im Hals. Schon als sie letzte Woche mit Teddy telefoniert hatte, hatte sie befürchtet, er könnte in letzter Minute absagen. Er hatte zweimal angedeutet, dass es bei der Arbeit gerade sehr hektisch zuging.
    »Er hat zu viel zu tun«, sagte Joe. »So, wie er sich aufspielt, könnte man glatt annehmen, er würde einer richtigen Arbeit nachgehen.«
    Teddy besaß eine eigene Beraterfirma, was immer das sein mochte.
    »Ach, Joe. Du weißt, dass er einer richtigen Arbeit nachgeht. Er ist sehr erfolgreich.«
    Ihr Mann grunzte mürrisch.
    »Was macht er eigentlich?«, fragte sie. Teddy hatte es ihr erklärt, aber ehrlich gesagt hatte Birdie kaum etwas verstanden. Es hatte mit Systemen und Infrastrukturen zu tun.
    Joe zuckte die Achseln und beäugte sein Handy. Das tat er ständig, so als sei der Bildschirm viel interessanter als alles, was um ihn herum vorging.
    »Irgendwas mit Computern.«
    Birdie dachte bei sich, dass Joe sehr wohl wusste, wie Teddys Arbeit aussah. Aus purer Gemeinheit hielt er sein Wissen zurück. Eigentlich waren Joe und Teddy nie gut miteinander ausgekommen. Selbst früher, als Teddy ein kleiner Junge war, hatte Joe seinen Sohn auf Abstand gehalten. Teddy war ein zarter, empfindsamer Junge gewesen – das genaue Gegenteil von den starken, kräftigen Burkes. Teddy war schlank und vorsichtig, still und kreativ, so wie die Männer in Birdies Familie. Was immer Joe mit seinem Sohn ausprobierte – Toben, Ballspiele, Angeln, Golf –, am Ende weinte Teddy sich immer in Birdies Schoß aus. Warum

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