Gedenke deiner Taten
Emily konnte es ihm vom Gesicht ablesen. Sie musste weinen.
»Er kann mein Auto haben«, schluchzte sie. »Zusammen mit dem Bargeld bekommt er mehr, als du ihm schuldest. Das muss reichen.«
Dean schüttelte den Kopf und trat einen Schritt zurück.
»Du kapierst es einfach nicht.«
»Ich will dein Auto nicht«, sagte Brad.
Er stand in der Tür. Emily sah ihm in die Augen. Sie waren leer und stumpf. Nichts machte ihr mehr Angst als Menschen, denen man ihre Gefühle nicht mehr ansah, die nichts mehr fühlten. Emily hatte solche Leute kennengelernt, sie wollten alles kaputtmachen. Sie nahmen sich alles, das Geld und die Träume der anderen, nur um es mit Füßen zu treten.
»Morgen früh hebe ich das Geld ab«, sagte sie. »Du kannst das Auto nehmen und wegfahren. Es ist ganz einfach.«
Er lächelte und hustete kurz.
»Nein, nicht wenn die Alte zehn Riesen mit sich rumträgt.«
»Das stimmt nicht«, widersprach Emily mit zittriger Stimme. Sie wischte sich die Tränen ab. »So viel hat sie nicht. Dean übertreibt.«
»Blödsinn«, sagte Dean. Er wollte ihren Arm berühren, aber Emily wich zurück. Brad beobachtete sie beide. Offenbar hielt er Emily für die glaubwürdigere Quelle.
»Wie viel?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie und zuckte die Achseln. »Manche Leute zahlen mit Karte. Heutzutage hat jeder eine Kreditkarte. Sie hat höchstens ein paar hundert in der Kasse.«
»Sie lügt«, rief Dean. Auf einmal klang er wie ein wütender kleiner Junge. »Sie lügt! Ich habe den Umschlag selbst gesehen, er ist so dick.« Er hielt Emily eine Hand vors Gesicht, formte mit dem Daumen und dem Zeigefinger ein U.
Brad legte den Kopf schief, bis ein lautes Knacken zu hören war. Er sah auf die Uhr. Zwanzig vor neun.
»Los geht’s«, sagte er.
Emily sah Dean an, der zu Boden starrte. Früher hatte sie sich bei ihm so sicher gefühlt. Sie hatte geglaubt, nie wieder Angst haben zu müssen. Als er noch zur Arbeit und sie neben dem Job zur Uni gegangen war, hatte sich ihr Leben so vollkommen angefühlt. Sie hatte nicht gewusst, dass er tablettensüchtig war. Sie hatte sich im Bett an ihn gekuschelt und vor Erleichterung geseufzt. Nicht alle Männer waren Monster, egal, was ihre Mutter behauptete. Sie hatte ihr Leben im Griff.
»Ich liebe dich«, hatte er geflüstert. »Ich passe immer auf dich auf.«
Sie hätte es wissen müssen.
ACHT
I n Chelseas Zimmer war es verdächtig still. Brendan lag auf dem Sofa und schaute fern. Früher hätte er den ganzen Abend Chelsea und Lulu geärgert, sie genervt, verpetzt, angefleht, mit ihm zu spielen. Aber irgendwann hatte er es aufgegeben und war dazu übergegangen, sie zu ignorieren, auch wenn Kate nicht entging, dass er Lulu am Esstisch pausenlos anstarrte. Er gab sich cool, was die Mädchen leider nicht bemerkten. Der Altersunterschied war zu groß; die Sechzehnjährigen nahmen den zehnjährigen Brendan kaum als menschliches Wesen wahr. Waren Chelsea und Brendan allein, kamen sie gut miteinander aus. Wenn ihre Freundinnen nicht dabei waren, ging Chelsea liebevoll mit ihrem kleinen Bruder um, der sie geradezu verehrte. Auf der Insel hatten sie viel Spaß zusammen. Die Liebe zur Insel, die Neugier auf das Abenteuer verband die Geschwister.
Kates Koffer war voll, dennoch hatte sie das Gefühl, dass etwas fehlte. Leider bestanden ihre Eltern darauf, dass alle Familienmitglieder sich vor dem Abendessen umzogen. Es reichte nicht, ein paar bequeme Freizeitklamotten auf die Insel mitzubringen; sie musste sich, so wie alle anderen, Abend für Abend in Schale werfen. Nur Sean weigerte sich; er fand das Ritual albern und affektiert. Kates erster Mann hatte sich dem Willen ihrer Eltern unterworfen, aber Sean muckte bei jeder erdenklichen Gelegenheit auf. Was sie von ihm hielten, war ihm egal. Ihr Reichtum ließ ihn – im Gegensatz zu den meisten Leuten – kalt und änderte nichts an seinem Verhalten. Er weigerte sich, eine Rolle zu spielen. Kate liebte ihn dafür.
Trotzdem hatte sie das Gefühl, sich bei den wenigen Besuchen auf der Insel an die Regeln halten zu müssen. Sie wusste, wie weit ihre Eltern es gebracht hatten und warum sie ihren Alltag so starr regelten. Es gefiel Kate nicht immer, aber sie hatte Verständnis dafür. Ihre Eltern brauchten das Gefühl, die Kontrolle zu haben, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Wenn jemand näher mit ihnen zu tun hatte, verspürten sie den Drang, auch ihn zu kontrollieren.
Kate hatte sich damit abgefunden. Anders als
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