Gedenke deiner Taten
die ganze Welt stehen. Chelsea und Kate hatten allein gelebt, denn Chelseas Vater hatte sich schon vor ihrer Geburt verabschiedet, er war am Boden und soff wie ein Loch. Chelsea teilte Kate nur ungern. Am Anfang bezeichnete Kate das Verhältnis zwischen Sean und der Kleinen als vorsichtiges Abtasten .
Eines Tages sollte Sean auf Chelsea aufpassen. Er kannte Kate seit gut einem Jahr und erinnerte sich, wie gerührt er gewesen war, weil Kate ihm vertraute. Die Beziehung hatte eine neue Stufe erreicht. Kates Anweisungen waren unmissverständlich: Chelsea durfte den Anfang der Kleinen Meerjungfrau schauen (höchstens zwanzig Minuten). Kate hatte Essen gekocht, Hühnchen, Brokkoli, Nudeln und Käsesauce. Sean brauchte es nur noch aufzuwärmen. Nach dem Essen half er dann Chelsea beim Zähneputzen, las ihr drei Geschichten vor und brachte sie ins Bett. Kate hatte ihm alles genau aufgeschrieben. Sean kannte sich aus, er hatte die Kleine schon oft ins Bett gebracht, während Kate im Wohnzimmer saß.
Nach der dritten Geschichte deckte er Chelsea zu und gab ihr einen Kuss auf die Wange, den sie gleichgültig über sich ergehen ließ.
»Ich habe dich lieb«, sagte er, und er meinte es ehrlich. Er liebte Kate, und er liebte ihr Kind. Er sagte es ihr jeden Tag. Sie antwortete nie, aber das war ihm egal.
»Weißt du, eigentlich bist du gar nicht mein Daddy«, sagte sie plötzlich, wie um das ein für alle Mal klarzustellen.
»Ja«, sagte er, »ich weiß.«
»Ich habe schon einen Daddy.« Aua.
»Ja, mein Spatz«, sagte er, »ich weiß.«
Da riss sie die Augen auf und holte tief Luft. Ihre Tränen hauten ihn um. Er ging auf die Knie, im wortwörtlichen Sinn. Manchmal brüllte sich Chelsea aus irgendeinem nichtigen Grund die Lunge aus dem Leib, dann wollte er sich am liebsten unter einem Kissen verkriechen. Aber diesmal waren ihre Tränen echt. Er legte ihr eine Hand auf die Stirn.
»Aber ich darf dich lieben und beschützen, auch wenn ich nicht dein echter Dad bin, oder?«
Sie nickte zögerlich. Immer noch kullerten Tränen über ihre Wangen. Was war trauriger und bedrückender als ein weinendes Kind?
»Wir können trotzdem allerbeste Freunde sein.« Er zwang sich zu einem schiefen Lächeln.
Chelsea schien zu überlegen. Er trocknete ihre Tränen mit seinem Hemdsärmel.
»Wirklich?«, fragte sie und holte zitternd Luft.
»Ja«, sagte er. Bloß nicht zu kompliziert werden. Falls es Freunde gibt, für die man sich vor einen Zug wirft – ja, dann sind sie Freunde, dachte Sean. Er schwieg.
Während des ersten Jahres mit Kate und Chelsea war ein neuer, unbekannter Instinkt in ihm erwacht, das unbändige Verlangen zu beschützen und zu verteidigen. Bevor er ihnen das Haus zeigte (eine Hausbesichtigung, die sein Leben verändern sollte), hatte er sich über die Zukunft kaum Gedanken gemacht. Er profitierte vom Immobilienboom, ging feiern, wechselte seine Freundinnen. Einmal pro Jahr verreiste er mit seinen alten Studienfreunden. Tauchen am Great Barrier Reef, Wandern auf dem Inka-Pfad, Seilbahn fahren im Urwald von Costa Rica, Snowboarden in den Alpen. Dass sein vierzigster Geburtstag bevorstand, beunruhigte ihn kein bisschen. Das Leben war eine endlose Party. Heiraten und Kinder kriegen? Wozu? »Wann wirst du endlich erwachsen, Sean?«,fragte seine Mutter. Nachdem er Kate und Chelsea kennengelernt hatte, hörte sie zu fragen auf.
»Okay«, sagte Chelsea, »dann sind wir Freunde.«
Es war abgemacht. Sie nickte, schniefte, wischte sich mit dem Unterarm die letzten Tränen ab. »Kriege ich einen Saft?«
Ihre seidigen blonden Haare, das Engelsgesicht. Er war erledigt. An jenem Abend hatte sie sein Herz gewonnen. Er war nicht ihr Dad, trotzdem war Chelsea sein Kind, ein einzigartiges Vater-Tochter-Verhältnis, das er niemandem zu erklären brauchte.
Als Brendan einige Jahre später auf die Welt kam, stellte Sean fest, dass er seinen leiblichen Sohn nicht mehr liebte als Chelsea. Ein Vater zu sein hatte nichts mit Blut und Genen zu tun; es ging um die Bereitschaft zur Hingabe, zur glücklichen Aufopferung. Wenn man Kinder hatte und sie liebte, war man bereit, alles für sie zu geben. Alles andere war nicht so wichtig.
Kate wäre nicht gerade begeistert, wenn sie erfahren würde, dass er ein Spionageprogramm auf Chelseas Rechner installiert hatte. Sie hatten in der Vergangenheit darüber gesprochen. Sie war zwar nicht unbedingt dagegen gewesen, hatte aber Bedenken geäußert. Es ist irgendwie hinterhältig. Ich möchte
Weitere Kostenlose Bücher