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Gedenke deiner Taten

Gedenke deiner Taten

Titel: Gedenke deiner Taten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Unger
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machte er dicht und wandte sich ab.
    »Ja, ja«, sagte er.
    Er küsste sie lieblos auf die Wange und bestieg den Zug. Birdie wartete die Abfahrt nicht ab. Sie stieg ins Auto und fuhr zum Markt. Ihr Mann war ihr sowieso keine Hilfe. Mit seiner schludrigen Art machte er ihr nur noch mehr Arbeit. In der Stadt beschäftigten sie zwei Angestellte, eine Putzfrau und gelegentlich eine Köchin. Die Wäsche wurde abgeholt und gebracht. Hier musste sie alles allein schaffen. Wieso nahm das niemand zur Kenntnis?
    Sie hievte Lebensmittel und Wäsche auf den Steg und machte sich auf den Weg zum Haus, wobei sie so viel mitnahm, wie sie tragen konnte. Um alles hinaufzuschaffen, musste sie zwei oder drei Mal gehen. Sie musste die Treppe am Anleger hinaufsteigen, die Freifläche vor dem Haus überqueren und die Verandatreppe erklimmen. Als sie den Kopf der Anlegertreppe erreicht hatte, entdeckte sie ihn wieder. Er stand auf der Veranda.
    Wer war das?
    Da es dunkel wurde, der Wind heulte und Joe weg war, fühlte Birdie sich weniger mutig. Sie blieb stehen, ihr Magen krampfte sich zusammen, ihr Herz raste. Er bewegte sich nicht, stand so still wie sie. Sein Gesicht konnte sie nicht erkennen. Er war nur ein dunkler Schatten. Birdie ließ die Einkaufstüten fallen und wich zurück.
    Sie rutschte aus und fiel, konnte sich aber mit den Ellenbogen abfangen. Um ein Haar wäre sie mit dem Kopf auf die harten Holzplanken aufgeschlagen. Sie hörte ihn lachen. Er klang wie eine Frau, und Birdie meinte, die Stimme zu kennen.
    »Birdie!« Was war das? Die Stimme war leise und fern.
    Birdie blieb stocksteif liegen, während er ins Haus huschte. Sie hörte die Fliegentür quietschen und zufallen. Sie wollte schreien: »Verschwinde aus meinem Haus!« Aber ihre Stimme versagte.
    »Birdie, ist alles in Ordnung mit Ihnen?« Der Wind trug die Stimme von weit her.
    Sie drehte sich um und entdeckte den jungen Mann, der die Insel südlich von Heart Island bewohnte. Er schrie und winkte angestrengt. Sie konnte ihn nicht verstehen.
    Einmal hatte er ihr erzählt, dass er von seinem Arbeitszimmer Birdies Anleger sehen konnte. Er sehe sie kommen und gehen. Das hatte sie geärgert. Sie wollte nicht wissen, was er sah und nicht sah. Sie pflegte zu ihren Nachbarn nur wenig Kontakt.
    Birdie brachte keinen Laut heraus. Ein Schmerz schoss ihr durch den Rücken bis ins rechte Bein. Ischias, der Fluch ihres Lebens. Sie ließ sich zurücksinken und beobachtete, wie der junge Mann – wie hieß er gleich? – in sein Boot sprang und den zweihundert Meter breiten Kanal zwischen den Inseln überquerte. John Cross, das war sein Name. Der Verleger, der mit Kates Exmann bekannt war.
    Geschickt legte er an und sprang auf den Kai. Birdie konnte sich nicht mehr erinnern, wie es sich anfühlte, so jung und fit zu sein und zu glauben, dass man jede Schwierigkeit meistern konnte.
    »Birdie, was ist passiert?« Er beugte sich herunter. »Können Sie sich bewegen?«
    Wäre es nicht angebrachter, sie Mrs. Burke zu nennen? Das wäre höflicher gewesen. Heutzutage bevorzugten die jungen Leute einen formlosen und vertraulichen Umgang, so als wären alle Menschen gleich.
    »Mr. Cross«, sagte sie, als sie ihre Stimme wiedergefunden hatte. »Da ist jemand auf meiner Insel. Ich habe ihn heute Morgen schon gesehen, und jetzt ist er im Haus. Bitte rufen Sie die Polizei.«
    Zweifelnd sah er sich um.
    »Sind Sie sicher? Haben Sie sich am Kopf verletzt?«
    »Junger Mann, nein, ich habe mich nicht am Kopf verletzt, und ich weiß sehr genau, was ich gesehen habe.«
    Er lächelte demütig und half ihr auf die Beine.
    »Natürlich«, sagte er. »Ich rufe sofort an.«
    Sie schaute zum Haus hinauf. Die nassen Holzschindeln glänzten dunkel, und in der Panoramascheibe spiegelten sich die Bäume von Cross Island. Jeden Moment konnte die Gestalt hinter dem Fenster auftauchen.
    John zog das Handy aus seiner Windjacke und rief die Polizei. In dieser Gegend war der Netzempfang schlecht, aber er hatte Glück. Dann erzählte Birdie ihm, was passiert war.
    »Er ist in meinem Haus«, sagte sie und packte Johns Handgelenk. »Ich habe ihn hineingehen sehen.«
    Da sah Birdie sie wieder, die geduldige Skepsis, mit der junge Leute ältere Menschen behandeln. Auf einmal hatten die Kinder das Kommando übernommen. Birdies Ärzte, Anwälte und Nachbarn wirkten erschreckend jung, und offenbar waren sie der Meinung, alles besser zu wissen. Plötzlich sollten die eigenen Vorstellungen und Gewohnheiten altmodisch, die

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