Gedenke deiner Taten
in letzter Zeit fühlte Chelsea sich unwohl, wenn Lulu etwas Unmögliches von ihr verlangte.
Neulich hatten sie versucht, sich davonzuschleichen. Lulu hatte darauf gedrängt. Sean hatte sie dabei erwischt, wie sie auf der Notleiter, die normalerweise unter Chelseas Bett lag, aus dem Fenster gestiegen waren, Chelsea hatte sich ein wenig gefürchtet. Als sie endlich unten angekommen waren, stand Sean schon auf dem Rasen. Er aß in aller Ruhe ein Eis und schien das Szenario zu genießen. Er musste in der Küche das Ausrollen der Leiter gehört haben, die mit einem fürchterlichen Krachen gegen die Hauswand geschlagen war. Sie hatten nie wieder über den Vorfall vor ein paar Wochen gesprochen. Danach war die Leiter auf mysteriöse Weise verschwunden.
»Das geht nicht, meine Lieben«, hatte Sean trocken gesagt. »Sorry.«
Er hatte nicht geschimpft und sie zurück ins Haus gebracht. Falls er Chelseas Mom davon erzählt hatte, ließ die sich nichts anmerken – was dafür sprach, dass er es ihr verschwiegen hatte. Kate wäre ausgerastet. Sie hätte Chelsea ein langes, quälendes Gespräch über Ehrlichkeit, Vertrauen, die Streichung von Privilegien und Hausarrest aufgenötigt. Sean war ganz anders. Er löste Probleme auf seine Weise. Offenbar fand er es normal, dass sie Unsinn machten, und er betrachtete es als seine Aufgabe, sie daran zu hindern.
»Unmöglich«, sagte Chelsea. »Falls er uns nochmal erwischt, wird er es meiner Mom sagen.«
Lulu verdrehte enttäuscht die Augen.
»Dann schreib ihm: ›Sorry, geht nicht.‹« Lulu klang verärgert.
Chelsea hatte bereits angefangen, eine umständliche Erklärung zu tippen. Sie würde ja gern, aber ihre Eltern seien sehr streng, und überhaupt verabrede sie sich nur ungern mit Leuten, die sie nicht kenne. Sie löschte den Text und schrieb das von Lulu Diktierte. Dann klappte sie den Laptop zu.
Und schwupps, war er verschwunden. Er existierte nicht mehr. Lulu hatte Recht, sie durfte ihm ihre Nummer nicht geben, denn dann wäre er ein Teil ihres Lebens. Dann hätte er einen Fuß in der Tür, wäre mehr als nur Buchstaben auf dem Bildschirm.
Es klopfte an der Tür.
Chelsea sah sich hastig um … Lulus Zigarettenschachtel war nicht zu sehen. Der Fernseher lief stumm.
»Herein«, rief Chelsea.
Sean steckte den Kopf ins Zimmer.
»Wie geht’s?«
»Gut«, sagte Chelsea. »Wir hängen rum.«
»Ihr führt nichts im Schilde, hm?«
»Was denn?«, fragte Lulu mit weit aufgerissenen Augen.
Sean lächelte.
»Also gut. Prima.« Er zog die Tür wieder zu.
»Sexy«, sagte Lulu.
»Igitt«, sagte Chelsea. Lulu kommentierte Seans Aussehen nicht zum ersten Mal. Chelsea wurde immer übel, außerdem machte es sie wütend. »Hör auf damit.«
Minutenlang war nichts zu hören als Lulus Finger auf der Tastatur. Chelsea beobachtete den zarten Nacken, die gebeugten Schultern ihrer Freundin. Auf einmal ärgerte sie sich über Lulu. Sie fühlte sich ihr fremd.
»Hast du«, sagte Lulu, »schon mal von Spyware gehört?«
Sie trug ein rosa T-Shirt, das eigentlich Chelsea gehörte (und Lulu viel besser stand). Sie hatte ihr Haar zu einem Knoten hochgesteckt und trug eine alte Trainingshose von Brendan. Sie sah einfach perfekt aus. Ihre Haut war rosig, ihre Augen dunkelgrün, die Wimpern dicht und lang. Sie sah selbst in geborgten Klamotten wie eine Schönheitskönigin aus. Egal, ob Lulu weinte, sich übergab oder im Sportunterricht schwitzte, sie war immer wunderschön. »Bei der Verteilung der Schönheit ist Gott ungerecht vorgegangen«, hatte Chelseas Vater in seinem ersten Roman geschrieben. Chelsea konnte den Satz nicht vergessen.
»Klar«, sagte sie.
»Sicher, dass deine Eltern sie nicht auf deinem Laptop installiert haben?«
Chelsea überlegte.
»Nein, ausgeschlossen«, sagte sie schließlich. »Das würden sie niemals tun.«
Chelsea betrachtete den Laptop, der klein und bescheiden neben ihr auf dem Bett lag.
»Ich meine ja nur wegen neulich, als wir abhauen wollten«, sagte Lulu. Sie setzte sich zu Chelsea aufs Bett und kuschelte sich an sie. »Wir haben wegen der Party mit Gwen gemailt, wann und wo sie steigt und so. Wir haben ihr geschrieben, dass wir aus dem Fenster klettern. Und gerade eben hat dich ein Typ gefragt, ob du heute Abend Zeit hast.«
Chelsea dachte nach. Nein, das traute sie ihrer Mom nicht zu. Ihre Mom war zwanghaft ehrlich.
»So einfach ist das?«, fragte sie. »Die können in Echtzeit mitlesen, was man schreibt?«
Lulu zuckte die Achseln.
»So genau
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