Gedenke deiner Taten
Mutter. Trotzdem vielen Dank.
Die zwei würden nichts und niemanden finden. Die Gestalt hatte keine Spuren hinterlassen. So kam es auch. Wenigstens vermittelten sie ihr nicht das Gefühl, eine Idiotin zu sein. Sie war nur froh, dass Joe nicht mehr da war. Er hätte ihr vorgeworfen, viel Lärm um nichts zu machen und die Zeit der anderen zu vergeuden. Er hätte Witze gerissen und den Männern ein Bier angeboten.
»Tja, zumindest heute Nacht müssen Sie keinen ungebetenen Besucher mehr fürchten«, sagte Roger. »Ein Sturm zieht auf.«
Den ganzen Tag lang hatten sich die Wolken zusammengebraut. Sie schienen sich nicht mehr zu bewegen, sondern hingen wie eine schwarze Masse über dem Festland.
»Sind Sie allein?«, fragte John Cross. Es ärgerte sie, dass er sie so besorgt ansah.
Birdie nickte knapp. Sie hatte auf dieser Insel schon Stürme durchgestanden, als John Cross noch gar nicht geboren war.
»Ich komme zurecht«, sagte sie. »Wirklich. Es tut mir leid. Ich weiß auch nicht, wer der Mann war und wohin er verschwunden sein könnte.«
»Dafür sind wir da«, sagte Roger und tätschelte ihren Arm. Ungeschickt kletterte er über Johns Boot in das seine.
»Sie sollten den Akku Ihres Funkgeräts aufladen, nur falls heute Nacht der Strom ausfällt«, rief er. »Die Telefonverbindungen machen bei Gewitter immer zuerst schlapp. Angeblich gibt es auf den Inseln neuerdings Handyempfang, aber davon habe ich noch nicht viel gemerkt.«
Es stimmte, die Handyverbindung war instabil. Seit ihrer Ankunft hatte Birdie kein einziges vernünftiges Gespräch führen können. Mit der Familie hatte sie größtenteils über E-Mail kommuniziert; Joe hatte für ihre Laptops zwei »Surfsticks« gekauft. Dabei funktionierte das Telefon einwandfrei, was in den vergangenen Jahren nicht immer der Fall gewesen war.
»Hat wohl mit den Bergen zu tun.« Roger sprach immer noch über den schlechten Handyempfang, aber Birdie hörte längst nicht mehr zu.
»Ich hoffe, Sie beide haben genug Treibstoff für Boote und Generatoren. Falls nicht – im Yachthafen ist noch alles geöffnet. Bis zum Gewitter haben Sie noch ein paar Stunden Zeit.«
John legte den Kopf in den Nacken, dann schaute er zu seinem Haus hinüber. Er schien sich Sorgen zu machen. Er kannte sich hier noch nicht aus. Er und seine Frau hatten nicht viel Erfahrung mit Booten und mit dem Inselleben. Ihre Ausrüstung war neu und teuer – Motorboot, Kajaks, Kleidung. Birdie wusste nicht genau, was die Frau beruflich machte. Sie hatte sie kaum beachtet, als die Cross herübergekommen waren, um sich vorzustellen. Johns Frau war klein und füllig und schien nicht viel zu sagen zu haben.
»Sie haben doch meine Telefonnummer, oder?«, fragte John.
»Ja, danke«, sagte Birdie. Sie hatte sie, irgendwo. Wahrscheinlich in einer Schublade, dachte sie. Sie würde sie bei Bedarf finden, aber so weit, da war Birdie sich sicher, würde es nie kommen.
Roger fuhr los. John überquerte den Kanal, erreichte seinen Anleger und ging an Land. Er winkte Birdie noch einmal zu und bedeutete ihr mit einer Geste, ihn anzurufen, dann war er verschwunden.
Birdie drehte sich um und betrachtete das Kiefernwäldchen, aus dessen Mitte die Hausdächer aufragten. Sie hörte, wie das Boot gegen den Anleger schlug. In der Ferne brummte der Generator, der die Insel – unterstützt von den neu installierten Solarzellen – mit Strom versorgte: Elektrogeräte, Lampen, Wasserpumpe, Heizung. Birdie fühlte sich allein. Sie und Heart Island waren allein. So war es ihr am liebsten.
ZEHN
M anchmal musste man sich entscheiden. Das hatte Emily begriffen. Man hatte Erfolg in der Schule, wenn man fleißig lernte und sich an die Regeln hielt. Man suchte sich einen Beruf aus und war mehr oder weniger erfolgreich, je nachdem, wie viel Mühe man zu investieren bereit war. Man entschied sich für einen Partner, für oder gegen Kinder. All diese Entscheidungen verhedderten sich zu einem Knäuel … tja, das war das Leben. Das klang alles gut und schön. Man kann sich nicht immer aussuchen, was einem zustößt. Aber man kann sich aussuchen, wie man damit umgeht . Das hatte ihre Mutter immer gesagt, und Emily glaubte daran. Leider war das Leben unberechenbar. Es konnte aus den Fugen geraten, und was anfangs gut aussah, konnte ein böses Ende nehmen. Wenn man einen Fehler gemacht hatte, musste man mit den Konsequenzen leben. Manchmal bestimmte der Zufall, wohin die Reise ging.
Das alles ging ihr durch den Kopf, als sie auf der
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