Gedenke deiner Taten
erreicht. Manchmal ging ihre Mutter nicht ans Telefon und stellte sogar den Anrufbeantworter aus, so dass man ihr keine Nachricht hinterlassen konnte. Kate war selbst Mutter und hatte dafür kein Verständnis. Wie konnte man für seine Kinder nicht erreichbar sein, auch wenn sie erwachsen waren?
Dieser Charakterzug lag in der Familie, dieser intensive Wunsch nach Abgrenzung und Alleinsein. Ein solches Verhalten war kalt und gemein. Das ständige Beharren auf Distanz selbst geliebten Menschen gegenüber hatte das Verhältnis von Birdie und ihren Geschwistern so tief zerrüttet, dass Kate ihren Onkel und ihre Cousins und Cousinen kaum kannte.
Viele Verwandtschaftsbeziehungen waren an den Klippen von Heart Island zerschellt. Nach dem Tod von Grandpa Jack hatten Onkel Gene und Birdie einen erbitterten Rechtsstreit ausgefochten und seither kein Wort mehr miteinander gesprochen. Tante Caroline hatte sich am Ende ihres Lebens nicht mehr auf die geliebte Insel gewagt. Es tut mir so leid, Kate, aber Birdie hat alles verdorben. Heart Island ist für mich nicht mehr die Insel meiner Kindheit.
An diesem stillen Augustabend war die Luft schwül. Nach einem Tag in klimatisierten Räumen empfand Kate das als angenehm. Ich atme ein. Ich atme aus . Auf einmal fühlten sich ihre Glieder bleischwer an.
»Du bist müde?«, hätte ihre Mutter gefragt. »Wovon, was hast du den ganzen Tag lang getan?« Obgleich Birdie in ihrem Leben kaum für Geld gearbeitet hatte, war sie alles andere als eine Vollzeitmutter gewesen. Für Menschen, die weniger schafften als sie, hatte sie nur Verachtung übrig. Mutter sein ist ja nicht gerade ein Beruf, oder?
Birdies Leben hatte immer schon aus einer hektischen Abfolge von Fitnesseinheiten bestanden, teils mit eigenem Trainer. Sie engagierte sich im Vorstand verschiedener Wohltätigkeitsorganisationen, in deren Sitzungen sie viel Zeit investierte. Sie ging zu »Geschäftsessen« und vereinbarte regelmäßig Termine beim Friseur und bei der Kosmetikerin. Maniküre, Pediküre, Gesichtsbehandlung, Enthaarung und Gott weiß was nicht noch alles. Theo und Kate waren größtenteils von ständig wechselnden Kindermädchen erzogen worden, weil Birdie mit dem Personal nie länger auskam. Die Geschwister hatten kaum Zeit, sich an eine Nanny zu gewöhnen, als sie schon wieder verschwunden war. Eine Tatsache, die Birdie bis heute vehement abstritt. Natürlich hatten wir Angestellte. Schließlich war euer Vater praktisch nie zu Hause. Ich habe euch ganz allein großgezogen . Vielleicht glaubte sie es selbst, aber es stimmte nicht. Und dennoch kritisierte niemand Kate so heftig für ihren ausbleibenden beruflichen Erfolg wie ihre eigene Mutter.
Irgendwann hatten alle, selbst ihre Eltern, aufgehört, Kate nach ihren Zielen zu fragen. Wenn man im Alter von vierzig Jahren noch nichts erreicht hatte, brachte man es wohl niemals zu etwas. Anfangs hatten die Fragen erwartungsvoll und optimistisch geklungen. Welches Hauptfach studierst du? Was wirst du nach dem Abschluss tun? Von der Tochter von Joe und Birdie erwartete man nur das Beste. Der wunderschönen Tochter der reichen New Yorker Mäzenenfamilie Burke standen alle Möglichkeiten offen, nicht wahr? Zumindest hatte Birdie das immer behauptet, so als sei Kates Abstammung ein Garantieschein für den Erfolg.
Später, als ihr Abschluss schon lange zurücklag, wurden die Fragen zurückhaltender. Hast du dir schon überlegt, was du machen willst? Zum Schreiben hattest du immer schon Talent. Deine Eltern haben immer gedacht, du gehst ins Verlagswesen . Und natürlich war da noch die erste, ungeplante Schwangerschaft. Danach die öffentliche Schlammschlacht mit Sebastian. ( Se-Bastard , wie sie ihn insgeheim nannte. Bei dem Namen war doch vorprogrammiert, dass man sich zu einem egoistischen Mistkerl entwickelte.) Und dann war Kate nach New Jersey gezogen und hatte einen Immobilienmakler geheiratet.
Die Dinnerpartys ihrer Eltern mied sie. Ehrlich gesagt wurde sie kaum noch dazu eingeladen. Kate, inzwischen schon Anfang dreißig, konnten sie nicht mehr stolz vorzeigen. Sie sagte immer, wenn sie nach ihrem Beruf gefragt wurde: Ach, ich bin nur Hausfrau und Mutter.
Darauf wussten alle etwas Nettes zu erwidern. Oh, das ist doch der wichtigste Beruf der Welt . Nachdem Maria Shriver auf Oprah verkündet hatte, die Mütter seien die obersten Hüterinnen der Menschheit, überschlugen sich alle vor Hochachtung.
In einer Zeitschrift hatte gestanden, eine Vollzeitmutter leiste
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