Gedenke deiner Taten
frühestens in fünf bis zehn Minuten. Und in fünfzehn Minuten konnte viel passieren. Falls ihr die Flucht überhaupt gelang.
»Okay«, sagte sie, »okay.«
Er atmete auf und lächelte.
»Wirklich? Okay?«
Sie nickte, und er küsste sie auf die Stirn.
»Braves Mädchen.«
Sie krümmte sich zusammen und kotzte Dean vor die Füße.
»Mein Gott, Em«, sagte er angewidert, »reiß dich zusammen.«
Mit tränenüberströmtem Gesicht schlich Emily zum Eingang des Blue Hen und klopfte an. Ihre Hysterie war nicht gespielt. Carols Gesicht tauchte hinter der Glasscheibe auf. Ihre Chefin war vorsichtig, aber sie hegte kein Misstrauen. Sie kannte Emily. Sie vertraute ihr. Eigentlich hatte sie keine Lust auf private Dramen nach 22 Uhr, denn sie war hundemüde. Aber ihr Mitleid war stärker.
»Emily, Schätzchen, was ist denn los?«
Sie öffnete die Tür und warf einen Blick über Emilys Schulter. Hatte sie die Männer gesehen? Ahnte sie, dass sie in der Falle saß? Emily trat ein, und Carol schloss die Tür hinter ihr ab. Carol war schon zuvor überfallen worden. Nicht hier in Jersey, sondern in New York, wo sie früher einmal ein Restaurant besessen hatte. Sie war vorsichtig geworden. Vor dem Haus hingen Überwachungskameras. Hatte sie Dean je davon erzählt? Nein, vermutlich nicht.
»Tut mir leid«, sagte Emily mit gebrochener Stimme. »Ich wusste nicht, wohin.«
Carol führte sie zur Sitzecke am Fenster.
»Was ist denn los? Was ist passiert?«
Der Moment war gekommen, hier und jetzt, denn noch war nichts Schlimmes passiert. Emily überlegte. Sie hatte die Wahl. Sie könnte sagen: »Carol, ruf die Polizei. Mein Freund und irgendein Junkie, ein Exsträfling, sind draußen. Sie wollen dich ausrauben. Ich konnte sie nicht aufhalten. Sie wollen, dass ich ihnen die Hintertür öffne, damit sie an dein Geld kommen. Aber das werde ich nicht tun. Du musst die Polizei rufen!«
Das wäre das Richtige. Es war glasklar. Aber Emily sagte nichts. Man würde Dean verhaften und einsperren. Oder er hörte die Polizeisirene und haute ab. Und dann? Dann wüsste er, dass sie ihn verraten hatte, und er würde sie auf ewig hassen. Würde er ihr etwas antun? Vielleicht nicht, aber genauso wenig konnte er verhindern, dass Brad sich an ihr rächte. Wenn sie ihnen half, bekam Brad sein Geld und verschwand. Emily könnte Dean überreden, einen Entzug zu machen und sich Arbeit zu suchen. Alles würde in Ordnung kommen. Paul und Carol waren versichert, und der Verlust von ein paar tausend Dollar täte ihnen nicht weh.
Sie schob sich auf die Sitzbank aus Kunstleder. Sie erzählte Carol, sie habe sich mit Dean gestritten und er sei gewalttätig geworden. Unter Tränen beichtete sie Carol, dass ihre Mutter den Kontakt abgebrochen hatte. Sie wolle sich nicht aufdrängen, brauche aber dringend jemanden, dem sie ihr Herz ausschütten könne. Stritten Carol und Paul jemals?
»Nein, nicht so«, sagte Carol sanft. »Aber als ich in deinem Alter war, hatte ich einen gewalttätigen Freund. Eins kannst du mir glauben, bei solchen Männern ist in den wenigsten Fällen auf Besserung zu hoffen. Wenn jemand einmal zuschlägt, wird er es mit höchster Wahrscheinlichkeit immer wieder tun. Und dann wird es jedes Mal schlimmer.«
Emily wusste, dass Carol Recht hatte. Sie nickte und weinte. »Am Anfang war er ganz anders«, sagte sie schluchzend. »Am Anfang war er so lieb.«
»Schätzchen, so läuft das immer«, sagte Carol. »Bis sie dich am Haken haben.«
»Ich will ihn nicht aufgeben. Ich liebe ihn«, sagte Emily. »Aber ich habe das Gefühl, mich in dieser Beziehung selbst zu verraten.«
Das hatte sie nicht sagen wollen. Sie bereute ihre Worte, kaum dass sie sie ausgesprochen hatte. Das war zu ehrlich. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass sie so dachte. Aber doch, genauso war es, seit Langem schon. Dean hatte einen schlechten Einfluss auf sie. Sie hatte sich zu einer Frau entwickelt, die sie kaum kannte und nicht sein wollte. In diesem Augenblick spürte sie das genau.
»Das ist nicht schön, Emily«, sagte Carol. Offenbar kannte sie sich mit dem Thema bestens aus. »Mit Liebe hat das aber nichts zu tun.«
Emily wurde wütend. Natürlich liebte sie Dean! Und sie ließ sich von niemandem das Gegenteil einreden. Warum sonst tat sie so viel für ihn? Sie würde das doch niemals machen, wenn sie nicht genau wüsste, dass ein guter Mensch in ihm steckte. Wenn es ihnen nur gelang, wieder so wie früher zu sein und den Rest zu vergessen, würde alles gut
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