Gedenke deiner Taten
nichts passierte. Als Paul in sein Auto stieg und davonbrauste, drehte sich Emily der Magen um.
»Eigentlich hatten sie sich vorgenommen, es anders zu regeln, weißt du«, sagte Emily versuchshalber. »In Zukunft will Paul das Geld täglich zur Bank bringen, nicht nur freitags.«
Wieder drehte Dean sich um. Brad starrte ihn an. Seit sie ins Auto gestiegen waren, hatte er schweigend dagesessen und das Blue Hen angestarrt.
»Warum hast du mir das nicht erzählt?«, fragte Dean.
»Wozu?«
Er warf ihr einen finsteren Blick zu, und Emily wappnete sich. Wofür, wusste sie noch nicht. Eigentlich hatte er sie nie geschlagen. Einmal hatte er sie hart angefasst, ein anderes Mal geschubst. Danach hatte er sich unter Tränen entschuldigt und war eine Woche lang der netteste Mensch der Welt gewesen. Das war es irgendwie wert gewesen. Selbst ihre Mutter hatte nie Hand an sie gelegt. Dabei brauchte es keine physischen Schläge, um jemanden zu verletzen. Manchmal waren Worte noch viel schlimmer. Und diese Wunden verheilten nie. Stöcke und Steine brechen meine Beine, Worte brechen mir das Herz.
»Hoffentlich irrst du dich«, sagte Dean. Er stieg aus und klappte den Sitz um. »Komm.«
Emily zögerte. Sie überlegte, einfach sitzen zu bleiben, zu schreien und eine Szene zu machen. Da spürte sie Brads Blick und sah ihn an. Seine leeren Augen erschreckten sie so sehr, dass sie sich abwandte, um nicht in dieses grausige schwarze Loch hineingesogen zu werden.
Dean beugte sich vor, packte sie am Arm und zerrte sie aus dem Wagen. Emily wehrte sich kurz und gab dann nach. Ihr Arm tat weh. Sie rieb sich die schmerzende Stelle und unterdrückte Tränen, Wut und Angst.
»Warum tust du das, Dean?«, flüsterte sie. »Es ist nicht richtig.«
Sie sah etwas über sein Gesicht huschen – Trauer, Angst, Reue. Aber schon im nächsten Augenblick war es verschwunden. Plötzlich merkte sie, dass er high war. Seine blutunterlaufenen Augen waren glasig. Sie wusste nicht, was er genommen hatte, wahrscheinlich eine Kombination aus den erbeuteten Medikamenten. Der Mann, den sie geliebt und dem sie vertraut hatte, war nicht mehr wiederzuerkennen. Sie wollte ihm sagen, wie sehr sie ihn geliebt hatte, damals, als sie beide nach einem langen Arbeitstag zu Hause zusammen kochten. Nie zuvor hatte sie jemanden so geliebt wie ihn.
»Du klopfst an, okay?«, sagte er. »Wenn sie öffnet, gehst du rein und erzählst ihr irgendwelche Märchen. Sag, du brauchst eine Freundin und hast niemanden zum Reden. Sie wird dich nicht abweisen.«
Nein. Natürlich nicht. Denn so war Carol nicht. Sie war ein guter und freundlicher Mensch. Sie wollten sich Carols mütterliche Instinkte zunutze machen, um sie zu verletzen und auszurauben.
»Nach ein paar Minuten sagst du, du müsstest zur Toilette«, sagte Dean. Offenbar hatte er alles genau durchdacht. Nur deswegen hatte er sie regelmäßig von der Arbeit abgeholt und sich mit den Köchen angefreundet. Paul hatte ihn sogar ins Hinterzimmer eingeladen. Emily hatte nichts davon geahnt. »Und dann gehst du in die Küche und machst die Hintertür auf.«
Wer war er? Vor ihr stand ein kalter, gefühlloser Krimineller, ein Drogensüchtiger. War er immer schon so gewesen? Hatte ihre Mutter ihn von Anfang an durchschaut? Warum hatte ihre Mutter sofort Bescheid gewusst, und warum war Emily so blind gewesen?
»Dann gehst du wieder nach vorn und lenkst sie ab.«
Emily schwieg immer noch. Ihr fehlten die Worte.
»Wenn du sie vom Büro fernhältst, kommt niemand zu Schaden«, sagte Dean. »Sie soll uns nur keinen Ärger machen, okay? Das ist jetzt deine Aufgabe: Carol davon abzuhalten, sich in Gefahr zu bringen.«
Er beugte sich vor und flüsterte: »Du kennst den Typen nicht. Du hast ja keine Ahnung, wozu er fähig ist, wenn er sich bedrängt fühlt. Glaub mir.« Emily fragte sich, ob Dean Brad meinte oder sich selbst.
Sie schwieg weiterhin. Dean packte sie bei den Schultern. Sein Atem roch faulig.
»Um das Geld brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Die sind versichert«, fügte er hinzu. »Sorg einfach dafür, dass die Kuh uns nicht in die Quere kommt.«
Emily fing am ganzen Leib zu zittern an. Falls sie tat, was Dean von ihr verlangte, könnte sie Carol beschützen. Was würden sie tun, wenn sie weglief, um Hilfe zu holen? Würden sie sie verfolgen? Das nächste Geschäft, eine Tankstelle, lag einen guten Kilometer entfernt. Wie lange würde sie brauchen? Zehn Minuten, mindestens. Und nach dem Notruf kam die Polizei
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