Gedenke deiner Taten
werden. Auf einmal spürte sie neue Hoffnung. In ein paar Minuten war alles vorbei. Dann würden sie auf den rechten Weg zurückkehren.
»Darf ich mal die Toilette benutzen?«, fragte sie.
»Natürlich«, sagte Carol. »Ich koche dir derweil einen Kakao.«
Emily durchquerte den engen Korridor, in dem sie am Morgen die Gläser zerschlagen hatte. Das Ganze schien Wochen her zu sein, so viel hatte sich seitdem verändert. Sie wusch sich das Gesicht und schaute in den Spiegel. Sie tupfte sich die verlaufene Wimperntusche von den Wangen. Ihr Spiegelbild hatte sie noch nie leiden können. Im kalten Neonlicht sah ihr Gesicht schmal und kränklich aus. Ihre Augen waren von einem stumpfen Braun. Der straßenköterfarbene Haaransatz verriet, dass sie keine echte Blondine war.
Sie ließ das Wasser laufen, damit Carol sie in der Toilette vermutete, und schlüpfte nach draußen. Sie lief durch den Korridor in die Küche. Nur über dem Herd und der Spüle brannte noch Licht; die Deckenleuchte war ausgeschaltet. Die Küche, normalerweise der hektischste, lauteste Platz im Restaurant, lag in ein trübes Orange getaucht. Es hatte etwas Vertrauliches, Intimes, nach Ladenschluss hier zu sein.
Emily ging zur Metalltür. Letzte Gelegenheit , dachte sie beim Blick auf den Riegel. Er war neu und glänzte golden. Dies ist deine letzte Gelegenheit, das Richtige zu tun . Sie hatte Dean zuliebe geklaut – Tabletten, Schmuck und Bargeld aus den Häusern, in denen sie saubermachte. Sie hatte ihm die Codes von Alarmanlagen verraten, einmal den einer Familie, die sie vom Babysitten kannte und die nach Disneyland gefahren war, und einmal den einer Boutique, dort hatte sie einen Monat lang als Aushilfe gearbeitet. Aber das hier war etwas ganz anderes, es war nicht fern und abstrakt. Zuvor hatte Emily sich noch einbilden können, niemanden verraten zu haben, was natürlich nicht stimmte. Die Leute hatten ihr vertraut, und sie hatte sie Dean zuliebe hintergangen. Warum? Warum, wenn nicht aus Liebe? Emily schloss die Tür auf, schob den Riegel zurück und ging rasch zurück. Sie wollte lieber nicht über ihr Handeln nachdenken.
Als sie wieder in den Korridor trat, stand Angelo vor ihr. Er trug Kopfhörer und wischte in aller Ruhe, beinahe hingebungsvoll den Fußboden. Er hob erschreckt den Kopf und fing zu grinsen an, als er Emily erkannte. Er zog sich den Kopfhörer vom rechten Ohr.
»Hey«, sagte er, »was machst du denn hier?«
Er durfte gar nicht hier sein. Dann wiederum war es nur logisch. Paul ließ Carol im Restaurant niemals allein, es war immer ein Mitarbeiter vor Ort. Emily schaffte es nicht, ihn anzulächeln. Angelo beobachtete sie verwirrt, und sein Lächeln erlosch. Dann richtete er den Blick in die Küche. Er riss die Augen auf. Sie musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass Brad und Dean durch die Hintertür hereingekommen waren.
ELF
B rendan schlief. Die Mädchen hatten sich in Chelseas Zimmer wie zwei Welpen ins Bett gekuschelt und schauten eine DVD . Kate erinnerte sich daran, welche körperliche Nähe sie mit ihren Freundinnen als Teenager erlebt hatte; so etwas wiederholte sich erst wieder, wenn man kleine Kinder hatte. Das unbewusste Ineinanderschlingen von Gliedmaßen, die nur einem Zweck zu dienen schienen: Liebe und Trost zu vermitteln. Sie hatte sich immer gefreut, wenn die Kinder zu ihr und Sean ins Bett krochen – was manchmal noch heute vorkam. Selbst die coole Chelsea schlief am liebsten in Kates Bett, wenn Sean unterwegs war.
Kate spürte, dass Chelseas Welt kopfstand. Sie hatte die Mädchen aufgeregt tuscheln hören. Bestimmt ging es um einen Jungen. Sie versuchte, sich nicht aufzudrängen. Sie würde sich nicht kindisch aufführen. So eine Mom war sie nicht.
Sean telefonierte im Arbeitszimmer. Sie hörte seine tiefe Maklerstimme, die ganz anders klang als seine private, laute und übermütige Kumpelstimme, die nur gute Freunde zu hören bekamen. Die Vaterstimme klang hingegen fest und tröstlich und jene, die für Kate reserviert war, sanft und stark. Kate mochte die späten Abendstunden, wenn alle zu Hause waren. Dann konnte sie endlich entspannen, lesen, mit Sean fernsehen. Oder, wie heute, draußen am Pool sitzen, ein Glas Wein trinken und die Stille genießen.
Sie hatte versucht, ihre Mutter anzurufen, um in Erfahrung zu bringen, ob auf der Insel noch irgendetwas fehlte. Sie wollte Birdie versichern, dass alle mit dem geplanten Wochenspeiseplan einverstanden waren. Aber sie hatte niemanden
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