Gedenke deiner Taten
selbst so unglückliche Menschen wie ihre Mutter waren wie verwandelt.
»Und jetzt?«, fragte Dean.
Emily wollte gerade den Mund aufmachen, als ein Auto näher kam. Ohne zu zögern, sprang sie auf. Dean lief zum Auto und holte zwei Taschen heraus, eine mit dem Geld und eine zweite, größere mit Einkäufen. Die Pistole steckte in seinem Hosenbund.
Emily stellte sich in das Scheinwerferlicht und wedelte mit den Armen. Dean beugte sich noch einmal ins Auto, dann verschwand er in der Dunkelheit.
Obwohl sie keinen Plan hatten, war es, als hätten sie es schon unzählige Male so gemacht. Emily hatte sich das Haar zum Pferdeschwanz zurückgebunden und sich die Hände gewaschen. Abgesehen von dem blauen Fleck im Gesicht sah sie wie eine normale junge Frau aus. Wer fuhr schon an einer jungen Frau vorbei, die auf einer dunklen Landstraße eine Autopanne hatte?
Das Auto, ein dunkelbrauner SUV , hielt tatsächlich an. Emily rannte hin. Sie konnte den Fahrer nicht erkennen, und sie wusste nicht, was passieren würde, was sie sagen sollte. Der Moment dehnte sich ins Unendliche aus, barg unzählige Möglichkeiten. Das war spannend und beängstigend zugleich.
ACHTZEHN
M utter und ich hatten etwas gemeinsam, das nur uns gehörte. Obwohl niemand etwas dafür konnte, glaube ich, dass Birdie und vielleicht auch Gene mich dafür hassten. Unsere Verbindung ging über ein Mutter-Tochter-Verhältnis weit hinaus, wir waren seelenverwandt. Aus diesem Grund hat sie ihre Tagebücher mir vermacht. Sie wollte, dass ich den Menschen Lana kennenlerne, eine junge Frau, die Entscheidungen traf und Fehler machte, und nicht bloß Lana, die Mutter. Sie wollte mich an ihren Freuden und an ihrem Leid teilhaben lassen, an ihren Erfolgen und Niederlagen. Man kann seine Mutter erst richtig kennenlernen, wenn man selbst erwachsen geworden ist. Und dann lebt sie vielleicht nicht mehr.
Kate, du bist für mich wie eine Tochter. Deswegen möchte ich, dass du meine und Lanas Tagebücher bekommst. Ich weiß, du allein kannst verstehen und wertschätzen, was wir aufgeschrieben haben. Ich vertraue darauf, dass du weder mich noch deine Großmutter verurteilen wirst. Einmal hast du gesagt, deine größte Angst sei, so wie Birdie zu werden. Dabei ist das ausgeschlossen. Du bist anders als sie. Mit deinem Vater hast du ebenso wenig gemein; im Grunde bist du das Produkt ihrer Unvereinbarkeiten. Liebes, du hast von beiden nur das Beste mitbekommen.«
Seit sie und die Mädchen auf der Insel waren, hatte Kate Carolines Worte im Kopf. Sie war zum ersten Mal seit der Beendigung des Romans wieder hier und sah alles mit anderen Augen – mit den Augen einer Erwachsenen.
Sie hatte viel Zeit mit Lanas und Carolines Tagebüchern zugebracht, und nun war die Insel mit Erinnerungen aufgeladen. Die Einträge der Frauen mischten sich mit Kates eigenen Kindheitserinnerungen. Die Insel erschien Kate so lebendig wie nie zuvor.
Mittlerweile wusste Kate über das Heiligtum ihrer Mutter mehr als Birdie selbst. Was in ihr gemischte Gefühle auslöste – Trauer, Angst und ein bisschen Schadenfreude.
Sie hatte sich vorgenommen, ihrer Mutter alles zu erzählen, auch wenn es ihr nicht leichtfiel. Als sie auf dem Sofa saßen, die Teekanne zwischen sich, war der geeignete Moment gekommen, über Lanas und Carolines Tagebücher zu sprechen, über die Geheimnisse, die Kate zu der Arbeit am Roman bewegt hatten. Kate hatte die Tagebücher sogar im Gepäck, um sie ihrer Mutter zu zeigen. Aber Birdie hatte sich Kates Gesprächsversuch entzogen. Das Wiedersehen war so ganz anders verlaufen, und die Gelegenheit war verstrichen.
Birdie erklärte den Mädchen haarklein, wie sie das Abendessen während ihrer Abwesenheit vorzubereiten hatten. Und Kate stellte Verhaltensregeln auf: Räumt hinter euch auf. Stellt das schmutzige Geschirr nicht in die Spüle. Den Salat bitte gründlich waschen. Den Ofen ausschalten, sobald der Braten gar ist. Im Haus herrscht Rauchverbot, Lulu! Sie hatte Lulu am Strand rauchen sehen und überglücklich festgestellt, dass Chelsea es ihr nicht gleichtat.
Am liebsten hätte Kate die Mädchen mit nach Cross Island genommen, aber Birdie war der Meinung, die Kinder hätten bei einem Erwachsenentreffen nichts zu suchen. Kate merkte, dass Lulu es jetzt schon bereute, mitgekommen zu sein.
»Sie haben doch gesagt, es gäbe hier Handyempfang?«, fragte sie Kate. Lulu trug eine Küchenschürze, die Birdie ihr aufgedrängt hatte, viel zu groß und mit abscheulichem Blumenmuster.
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