Gedenke deiner Taten
Boot.«
»Ja, mach das«, sagte Kate.
Ihre Tochter nippte am Tee und schaute aus dem Fenster. Kate sah Caroline ähnlich – was nur logisch war, hatte Kate doch die Tante der Mutter immer vorgezogen. Kate war so hübsch wie Caroline, mit ihrer Stupsnase, den rosigen Wangen und vollen Lippen. Birdie wusste nicht, was sie noch sagen sollte. Was hätte Caroline jetzt gesagt? Etwas Überschwängliches, Exaltiertes, auf jeden Fall etwas Nettes. Aber wie immer fühlte Birdie sich nicht in der Lage, die Distanz zwischen sich und ihren Kindern zu überbrücken. Von ihrem Tee hatte sie noch keinen Schluck getrunken.
Kate wandte den Blick vom Fenster ab.
»Sag Bescheid, wenn ich dir helfen kann.«
»Wobei sollte ich deine Hilfe brauchen?«
Birdie stand schnell auf und zog ihre Jacke über. So hatte sie das nicht gemeint. Sie hatte nur sagen wollen, dass sie wie immer allein zurechtkam. Trotz ihres Alters war sie immer noch leistungsfähig. Die ungeschickt gewählten Worte, der scharfe Ton, das Missverständnis standen nun zwischen ihnen, aber es war nicht Birdies Aufgabe, sie aus dem Weg zu räumen.
»Natürlich brauchst du meine Hilfe nicht«, sagte Kate.
Ihre Tochter wandte sich wieder ab, griff zu einer Zeitschrift und schlug sie auf. Birdie eilte hinaus.
SIEBZEHN
B eide Besuche hatten im Spätsommer stattgefunden, bevor die ersten Blätter fielen. Es war noch warm gewesen. Als Kind war Emily schnell reisekrank geworden. Auf dem Rücksitz wurde ihr übel, selbst wenn alle Fenster offen standen und frische Luft hereinkam. Sie hatte sich während der Fahrt übergeben.
Am deutlichsten jedoch erinnerte sie sich an ihn und dass ihre Mutter in seiner Gegenwart zu einem anderen Menschen wurde. In seiner Nähe lachte ihre Mutter wie ein junges Mädchen. Er trug einen goldenen Ring an der linken Hand und ein dickes Goldarmband. Er roch anders als alle Männer, die sie kannte, nicht nach Alkohol und Zigaretten, sondern nach Rasierwasser. »So riecht Geld, mein Schatz«, hatte ihre Mutter gesagt.
Er war stets gebräunt, und seine Augen leuchteten in einem intensiven Grün. »Wo ist meine kleine Em?«, rief er, und Emily rannte zu ihm. Er warf sie in die Luft, als sei sie eine Feder, und umarmte sie. Wie alt war sie beim letzten Treffen gewesen? Vier oder fünf. Bei jenem letzten Besuch war irgendetwas Schreckliches vorgefallen. Sie konnte sich nicht mehr genau erinnern. Sie hatte Geschrei gehört, etwas war klirrend zerbrochen. Danach hatte sie ihren Vater nie wieder gesehen. »Er will uns nie wiedersehen, Emily«,hatte ihre Mutter gesagt .
Und weil Emily nie wieder von ihm gehört hatte, er nie anrief, keine Briefe oder Geschenke mehr schickte, zweifelte sie die Worte ihrer Mutter nicht an. Er war wie der Sandmann, der ihr kurz vorm Einschlafen als strahlend helle Lichtgestalt erschien. Er war ein Traum.
Ihre Mutter hatte andere Männer kennengelernt. Alle waren nett. Im Gegensatz zu vielen anderen Stieftöchtern hatte Emily keine schlechten Erfahrungen gemacht. Trotzdem waren diese Männer nie mehr als Pappkameraden, die kamen und gingen und nicht mehr hinterließen als ein paar Fotos und billiges Spielzeug, das sie sich ohnehin nicht gewünscht hatte.
»Wir müssen das Auto loswerden«, sagte Dean.
Sie waren seit Ewigkeiten unterwegs. Das Motel, in dem sie Brad zurückgelassen hatten, war irgendwo in New Jersey. Soeben hatten sie eine Stadt namens The Hollows erreicht, wo sie getankt und Essen beim McDonald’s-Drive-in gekauft hatten.
»Sicher wird danach gefahndet.«
Daran hatte Emily auch schon gedacht, aber sie hatte geschwiegen. Sie wollte kein Auto stehlen – aber was sollten sie sonst machen, wenn sie das eigene zurückließen? Andererseits wünschte sie sich insgeheim erwischt zu werden, denn dann hätte der Albtraum ein Ende. Hatte die Bedienung im Drive-in nicht misstrauisch geschaut? War ein Steckbrief im Umlauf? Nein, wahrscheinlich hatte die Frau nur auf Emilys geschwollenen Kiefer geachtet. Sie hatte betreten beiseitegeschaut, als Emily ihre Blicke bemerkt und sich schnell eine Hand an die Wange gelegt hatte.
Dean fuhr an den Straßenrand.
»Was tust du?«, fragte Emily.
»Dahinten habe ich ein geeignetes Auto gesehen.«
»Nein, fahr weiter. Wenn wir ein Auto vor einem Wohnhaus stehlen, wird der Besitzer es melden, und dann suchen sie danach. Sie werden den Mustang finden und sofort wissen, dass wir es waren. Es wäre doch viel schlauer, ein Auto von einem großen Parkplatz zu klauen,
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