Gedenke deiner Taten
Darin sah sie aus wie das Kind, das sie eigentlich auch war.
»Offenbar nur zeitweise«, antwortete Kate. Lulu sah sie verständnislos an. »Wegen des Wetters. Vielleicht liegt es aber auch an den Bergen.«
Lulu schaute auf ihr Smartphone.
»Oh.«
Chelsea nahm ihr das Gerät aus der Hand und legte es auf den Küchentresen.
»Vergiss es, Lulu. Hilf mir, den Salat zu waschen.«
Lulu warf einen letzten, sehnsüchtigen Blick auf ihr Handy und machte sich widerwillig bereit.
»Okay. Wie mache ich das?« Sie schien es tatsächlich nicht zu wissen.
Kate vernahm einen vertrauten, hohen Pfeifton und schaute aus dem Fenster. Birdie hatte unten am Anleger das kleine Boot bestiegen. Selbst aus dieser Entfernung strahlte sie eine gereizte Ungeduld aus. So lange Kate denken konnte, benutzte Birdie eine Trillerpfeife, um ihre Kinder auf der Insel zusammenzutrommeln. Schon früher hatte Kate das als unglaubliche Frechheit und Zeichen von Herrschsucht empfunden; als Erwachsene war das Geräusch unerträglich. Sie war doch erwachsen, oder? Warum fühlte sie sich nicht mehr so, sobald sie in Birdies Nähe war?
»Du wirst gerufen«, sagte Chelsea.
»Das ist ja krass«, sagte Lulu, die inzwischen Karotten schnippelte. »Ganz im Ernst. Für wen hält die sich?«
»Wie hältst du das bloß aus, Kate?«, hatte Theo gefragt. »Ich höre diese Pfeife in meinen schlimmsten Albträumen.« Spätestens nach dem letzten Sommerurlaub hätte Kate wissen müssen, dass Theodore nicht mehr auf die Insel kam. »Später einmal, wenn beide nicht mehr sind,komme ich vielleicht zurück . « Seine Stimme klang emotionslos, als sie kurz vor Kates Abreise noch einmal telefoniert und sich wieder vertragen hatten. Erst nach dem Tod der Eltern kam er wieder nach Heart Island. Wie traurig, hatte Kate gedacht. Wie unsagbar traurig.
Unten am Anleger kletterte Kate ins Boot. Es schwankte, und Kate spürte eine vertraute Nervosität.
»Ich habe auf dich gewartet«, sagte Birdie.
»Ja, Mutter«, entgegnete Kate. »Wir haben den Pfiff gehört.«
Birdie brummte mürrisch und warf den kleinen Außenbordmotor an.
»Darf ich mal sehen?«, fragte Kate und streckte die Hand aus. Birdie legte die Pfeife hinein, die um ihren Hals gehangen hatte. Widerwillig betrachtete Kate die silberne Pfeife. Sie war noch warm von Birdies Haut und schimmerte in der Nachmittagssonne. Ohne zweimal zu überlegen, warf Kate sie ins Wasser. Birdie sah sie entsetzt an.
»Was …«, sagte sie. »Was fällt dir ein? Die brauche ich für Notfälle!«
Auf einmal tat es Kate leid, und wie immer, wenn sie sich vor der Mutter rechtfertigen sollte, beschlich sie ein ängstliches Gefühl. Sie wehrte sich mit aller Kraft dagegen, genau so, wie sie es sich vorgenommen hatte. Die Angst wich einer seltsamen Genugtuung.
»Im Notfall«, sagte Kate, »kannst du schreien. Ansonsten solltest du wie jeder andere geduldig und höflich warten. Ich hatte etwas mit den Mädchen zu besprechen. Sie waren noch nie allein auf einer Insel.«
»Ich habe andere Pfeifen«, sagte Birdie. Sie starrte Kate immer noch an, vor Schreck hatte sie die Mundwinkel nach unten gezogen.
»Tja«, sagte Kate, »bitte benutze sie nie wieder. Ich bin kein Hund.«
Die Wellen schlugen an die Seite des Boots. Hoch oben zog ein Habicht seine langsamen, mühelosen Kreise.
»Ich wusste gar nicht, dass du es als kränkend empfindest«, sagte Birdie.
»Ich bitte dich.« Kate hatte nicht mehr zu dem Thema sagen wollen, aber Birdie durfte unmöglich das letzte Wort haben. »Wie konnte dir das entgehen?«
Sie drehte sich zur Insel um und sah John Cross winkend auf dem Anleger stehen. Ihre Mutter hatte erzählt, er kenne Sebastian, aber Kate konnte sich nicht erinnern, den Mann je zuvor gesehen zu haben. Das Verlagsgeschäft war übersichtlich, und scheinbar kannte jeder jeden.
Als sie die Insel erreichten, klemmte Birdie sich eine Weinflasche unter den Arm und setzte ihr Sonntagsgesicht auf. Sie strahlte, verteilte Komplimente und machte Smalltalk.
»Was für ein prächtiger Anleger! Von wem haben Sie ihn bauen lassen? Oh, was für ein entzückendes Haus. Diese Panoramafenster sind einfach unglaublich. Früher hatten wir eine ähnliche Wetterfahne. Sie ist vor ein paar Jahren mit dem Sturm davongeflogen.«
Die Cross fanden Birdie sicherlich unwiderstehlich, charmant, höflich und herrlich amüsant. Aber sobald sie wieder außer Hörweite wären, würde Birdie ihrer Tochter in allen gnadenlosen Details aufzählen, was sie an den
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