Gefaehrlich begabt
dauerte, bis sich der Nebelschleier auflöste und die Schwaden über die Baumspitzen hinwegzogen. Sie sah in die Runde. Die Gesichter wirkten verwirrt und benommen. »Was hast du getan?«
Sebastian setzte zur Erklärung an, als sich Marla zu ihnen gesellte. »Sie kennen ihre Namen nicht und werden gemeinschaftlich in einen langen Urlaub fahren. Sie halten sich für den Moment für eine andere Person. Es ist das Beste, sie aus der Schusslinie zu wissen.«
Anna nickte langsam. Es war wahrscheinlich der beste Schutz, den sie den anderen bieten konnten. Vielleicht überlebten sie. Glücklich. Unbeschwert.
»Wir werden den Reisebus verpassen«, sagte ihre Mutter mit hoher Stimme.
Eine tonnenschwere Last legte sich auf ihr Herz, als sie in die verfluchten Augen blickte. Sylvias Augen starrten blicklos zurück. Sie erkannte sie nicht mehr. Anna schluckte schwer und unterdrückte ein paar Tränen.
»Dann sollten wir uns beeilen.« Jenny griff die Hand ihrer Granny.
Anna trat auf sie zu, wollte sie umarmen und ihnen alles Gute wünschen, aber Sebastian hielt sie zurück.
»Nein, Anna.«
Unter Tränen sah sie, wie sich die Menschengruppe langsam aus dem Forst bewegte. Ahnungslos. Verflucht. Ohne sie eines Blickes zu würdigen. Anna schluchzte und wandte sich ab, bevor ihr Herz zerbrach.
»Wartet hier ein paar Minuten«, sagte Sebastian und schloss sich den anderen an.
»Er wird sie sicher zur Straße geleiten und den Fahrer beeinflussen. Nur so können wir ihnen helfen.« Auch Marla klang, als unterdrückte sie einen Weinkrampf. Vielleicht war es das letzte Mal, dass sie ihre Tochter sah.
»Wann habt ihr das beschlossen?«, fragte Anna.
»Ich hatte die Idee und hab sie Sebastian vor dem Jagdschloss mitgeteilt. Er hat ein Sammeltaxi bestellt. Niemand von ihnen hätte das freiwillig getan. Aber sie sind auch nicht freiwillig in diesen Kampf geraten, deshalb mussten wir handeln. Es wird auch so schon genug Tote geben.«
Anna schluchzte auf. Sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. »Wohin gehen sie denn?«, brachte sie mühsam hervor.
»Eine Hexenfreundin aus alter Zeit wird sie an einem Bahnhof in der Nachbarstadt entgegennehmen und alles Weitere arrangieren. Ich wollte auch sie in Sicherheit wissen. Sie ist vielleicht die einzige Freundin, die wir noch haben. Wohin die Reise geht, keine Ahnung. Sie wird das Unbedenklichste herausgesucht haben. Es ist von Vorteil, dass wir es nicht wissen. Für den Fall, dass wir …«
»Sag nicht – versagen. Bitte, sag jetzt nicht versagen.« Annas Stimme brach. Sie hatte lange genug die Fassade aufrechterhalten. Allen zuliebe. Wenn sie neue Kraft sammeln wollte, durfte sie nicht länger alles in sich hineinfressen. »Und was tun wir jetzt?«
Sebastian tauchte zwischen den Bäumen auf. Sein eisblauer Blick suchte sich den Weg in Annas Seele. Er nickte ihr zu. »Wir werden den Beirat und meine Eltern stoppen.«
»Wie?«
»Zunächst einmal müssen wir nach Deutschland zurück.«
»Ich brauch ’ne Pause«, jammerte Anna los. Für die nächsten Minuten wollte sie einfach mal das Kind sein, das sie hätte sein sollen.
»Dafür bleibt keine Zeit.« Er klang ernst, kalt, bestimmend und gefühllos. Trotzdem nahm er ihre Hand. Ohne ein weiteres Wort verließen sie den Wald, in der Hoffnung, im Krieg nicht gleich zu erliegen.
40. Kapitel
Brüder
I n Deutschland hatte der Herbst Einzug gehalten. Sie hatten nur wenige Tage in England verbracht, aber das Wetter hatte sich verändert. Sie hätten genauso gut ein Jahr fort sein können, alles wirkte fremd. Eine dicke, graue Wand hatte sich an den Himmel geschoben, warf schwaches Licht auf die Erde. Die Sonne kämpfte mit den schwarzen Wolken und fand keinen Weg an ihnen vorbei. Die dunkle Masse würde wohl die nächste Zeit nicht weichen. In manchen Momenten auf ihrer Reise hatte sich Anna gefragt, ob sie die grauen Nebelschwaden vielleicht eingeatmet hatte. Denn auch in ihr hatte sich eine Wand ausgebreitet. Nebel, der betäubte, und sie sich kaum rühren ließ.
Als sie landeten, regnete es in Strömen. Immer noch sah sie überall Feinde, erwartete die Engländer hinter jeder Ecke. Vielleicht war sie auch inzwischen paranoid geworden, denn niemand hatte sich ihnen in den Weg gestellt. Aber wer konnte ihr die Sorgen verübeln?
Sebastian glaubte, dass der Beirat zunächst seine Wunden lecken würde. Drei Männer hatten sie verloren und ein Jägerteam dazu. So schnell würden sie nicht zurückschlagen.
Eines war leider
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