Gefährlich nah
hätte Lauren recht gehabt. Auf Laurens Anraten hin gab Dad das Buchprojekt auf, an dem er gearbeitet hatte, und die Abendkurse, die er leitete. Er verbrachte mehr Zeit zu Hause, und siehe da, es ging ihm besser. Ihm war nicht mehr übel oder schwindelig, er fiel nicht mehr und war auch nicht mehr so ungeschickt und stieß dauernd gegen irgendetwas - wenigstens nicht für eine Weile.
Dee erschauerte. Sie sollte lieber nicht an all das denken. Sie sollte lieber über Hazel nachdenken. Über Hazels Problem. Nein, nicht einmal darüber. Sie sollte ein Video anschauen. Sie merkte, dass ihre Augen zwar auf den Bildschirm gerichtet waren, aber der war leer. Jemand sagte etwas. Der Lehrer. Er stand ganz in der Nähe.
»Nun?«, sagte der Lehrer.
Schaute er sie an oder Hazel? Hatte er soeben eine Frage gestellt?
»Atommüll«, sagte Joe und drehte sich auf seinem Stuhl um.
»Das stimmt«, sagte der Lehrer. »Gut zu wissen, dass wenigstens einer aufgepasst hat.«
Dee lächelte Joe dankbar zu, aber Hazel zeigte überhaupt keine Reaktion, so als hätte sie nicht einmal mitbekommen, was da gerade los gewesen war.
»Das wird schon wieder«, sagte Dee zu Hazel, als sie ihre Sachen einpackten.
Was hätte sie auch sonst sagen sollen? Wenigstens geschah etwas mit Hazels Mum. Nicht wie bei ihrem Dad, wo sie alles hatten laufen lassen, die Anzeichen ignoriert hatten, nicht sehen wollten oder konnten, was das vor sich ging, bis alles vollkommen außer Kontrolle war.
SECHS
Abbie sauste in den Gemeinschaftsraum, griff sich ihre Jacke, zog sie aber nicht an. Es war einfach zu heiß. Spätnachmittag an einem Freitag Ende Oktober, und die Sonne brannte noch immer, als wäre es Hochsommer in der Sahara. Irgendwie war die Zeit bis zu den Herbstferien wirklich schnell vergangen und die Ferien würden genial, fantastisch, wunderbar, unglaublich megaspitze werden. Tom hatte die ganze Woche frei und sie wollten jede verfügbare Minute zusammen verbringen. Nur sie beide, ohne Paige und Leo. Das hatte er ihr versprochen.
Okay, ja, sie musste auch Hausaufgaben machen, musste mit den Aufsätzen für ihre Kurse anfangen, ganz zu schweigen von all den ausstehenden Arbeiten, die ihre Lehrer ständig anmahnten. Und inzwischen war wohl auch der Brief angekommen: der Brief wegen der »ernsthaften Gefährdung«, den die Schule zu ihr nach Hause schickte. Aber das war doch sowieso egal. Sollten ihre Eltern doch jammern, klagen und beleidigt tun, aber sie konnten sie nicht daran hindern wegzugehen, oder? Tom hatte recht. Schule war langweilig. Schule war was für Kinder. Wenn sie rausgeschmissen würde, dann würde sie sich wenigstens den ganzen Ärger sparen, ihre Eltern zu überreden, dass sie aufhören durfte.
»Du bist ja ein Schnellstarter«, sagte Hazel, die gerade hereinkam, als Abbie schon wieder auf dem Weg nach draußen war.
»Tja, Tom holt mich um sieben ab, da muss ich mich noch fertig machen.«
»Okay, aber vergiss den Mittwochabend nicht«, sagte Hazel.
Mittwoch, Mittwoch? Was, zum Teufel, war am Mittwochabend los?
»Hazels Geburtstag «, sagte Joe, der wie immer in Hazels Nähe herumhing.
»Pah, das weiß ich doch!«, sagte Abbie. »Ich würde doch nicht den Geburtstag von meiner besten Freundin vergessen, oder?«
»Und du bringst Tom mit?«, fragte Hazel.
»Ja, ich hab’s ihm gesagt. Es ist alles geplant. Bis dann«, sagte Abbie und rannte nach draußen.
Tom war nicht gerade begeistert gewesen von der Vorstellung, als sie es ihm gesagt hatte, aber er hatte sich überreden lassen. Er war während der letzten Wochen nur ein paar Mal bereit gewesen, ihre Freunde kurz kennenzulernen, und er konnte sich für keinen von ihnen so recht begeistern. Er fand sie langweilig. Aber Hazel war bei diesem ersten Treffen auch ziemlich ruhig und bedrückt gewesen und hatte sich nicht gerade von ihrer besten Seite gezeigt - mit der ganzen Sorge um ihre Mum und so. Es war ja kurz nach der Operation gewesen, und Hazel war nur zehn Minuten da gewesen weil sie auf dem Weg ins Krankenhaus war. Total aufgelöst,
weil sie irgendwelche Ergebnisse oder so bekommen sollten.
Und das zweite Mal, als sie der ganzen Meute zufällig in der Stadt über den Weg gelaufen waren, hatte Tom sich wegen Sanjay aufgeregt, was dumm war, weil Sanjay jetzt ganz eindeutig was mit Dee hatte. Obwohl Abbie nicht so sicher war, was da wirklich lief, aber es war ihr auch egal.
Sie konnte nicht recht nachvollziehen, was Sanjay überhaupt an Dee fand. Tom hatte völlig
Weitere Kostenlose Bücher