Gefährlich nah
der Bibliothekarin, die gegen zehn ebenfalls verschwand. Sobald sie gegangen war, schob Hazel ihre Bücher beiseite und schaute Dee fragend an.
»Ich weiß, dass das ein bisschen sehr persönlich ist«,
sagte Hazel. »Und du sprichst nicht so gerne über deine Familie und so, aber, äh, ich meine, ihr lebt nicht bei eurer Mutter, oder? Und da hab ich mich irgendwie gefragt - ob deine Eltern geschieden sind oder was?«
»Mum ist gestorben«, sagte Dee. »Autounfall. Als ich sieben war.«
Sie brauchte ja nicht zu erzählen, dass sie auch mal eine Stiefmutter gehabt hatte. Brauchte Lauren nicht zu erwähnen. Denn das alles wollte sie wirklich nicht ausbreiten.
»Tut mir leid.«
»Schon okay«, sagte Dee.
»Es tut mir leid«, sagte Hazel noch einmal. »Es ist nur, dass …«
»Hey«, sagte Dee und streckte die Hand aus, um Hazel am Arm zu berühren.
Sie wollte etwas Aufmunterndes sagen, etwas Optimistisches, dass Krebs heutzutage kein Weltuntergang mehr war, dass es so viele tolle neue Behandlungsmethoden gab und so viele Leute wieder ganz gesund wurden, aber sie wusste ja gar nichts. Wusste nicht, wie weit es bei Hazels Mutter bereits fortgeschritten war. Und sie wollte keine dummen Plattitüden daherreden, bevor sie keine Tatsachen kannte.
»Erzähl’s mir«, sagte sie stattdessen. »Vielleicht hilft das. Einfach mal mit jemandem zu reden, ja?«
»Sie wird operiert«, sagte Hazel. »Nächsten Montag. Am Sonntagabend geht sie in die Klinik. Ich meine, ihr muss die Brust nicht abgenommen werden oder so. Das
ist schon mal gut, oder? Sie nehmen nur den Knoten raus und kontrollieren, dass sich der Krebs noch nicht ausgebreitet hat, in die Lymphknoten oder so. Aber was ist, wenn er sich doch schon ausgebreitet hat? Mum sagt, so was soll ich nicht denken. Aber ich kann nicht anders. Wie wird man damit fertig, wenn …«
»Das wird nicht nötig sein«, sagte Dee leise, aber bestimmt, so wie sie es bei Scott gelernt hatte. »Deine Mutter hat recht. Du darfst nicht mal so was denken. Sie operieren doch früh, oder? Dann stehen die Chancen doch gut, dass es wirklich nur der eine Knoten ist. Daran musst du glauben.«
Es klang irgendwie falsch und unaufrichtig, Hazel einen Vortrag über positives Denken zu halten. Hazel hatte gesagt, dass es ihr geholfen hätte, aber ihre unbeendete Frage hatte Dee noch den ganzen Tag verfolgt und war noch immer in ihrem Kopf, als sie später neben Hazel im Unterricht saß und eigentlich ein Video über Umweltverschmutzung anschauen sollte.
»Wie wird man damit fertig, wenn …«
Wie wird man damit fertig, wenn man jemanden verliert? Die Wahrheit war, dass man nicht damit fertig wurde. Nicht tief drinnen. Aber das konnte sie Hazel ja wohl kaum erzählen, oder? Oh ja, man lernte, zu funktionieren, weiterzumachen, sich anzupassen, und selbst die Leere wurde mit der Zeit gefüllt, aber man blieb einfach schwächer und verletzlicher. Man erwartete immer das Schlimmste im Leben und nicht mehr das Beste. Nicht ständig vielleicht, aber manchmal. So wie damals, als
Dad den ersten Unfall hatte. Da war sie ausgetickt, total ausgetickt.
Sie hielt die Augen fest auf das Video gerichtet, aber ihre Gedanken waren anderswo. Wieder in Liverpool, etwa sechs Monate, nachdem Lauren und Dad geheiratet hatten. Während der Osterferien, als Dee und ihre Brüder bei den Großeltern untergebracht waren, damit Dad und Lauren das Haus renovieren konnten. Nicht bei den Großeltern, wo sie jetzt waren, sondern bei den Eltern ihrer Mutter, Nana und Pops, die in einem Dorf zwischen Liverpool und Knowsley wohnten.
Sie waren oft zu Besuch bei Nana und Pops gewesen, bis Lauren sich heftig mit ihnen verkrachte und für eine Weile jeder Kontakt unterbrochen war. Aber die Osterferien damals waren gut gewesen, absolut toll sogar, bis am Ende der zweiten Woche dieser Anruf von Lauren kam.
»Peter hatte gestern einen kleinen Unfall«, hatte sie Pops erzählt. »Nichts Ernstes. Er ist von der Leiter gefallen, als er die Decke in der Küche gestrichen hat. Es wird schon wieder, aber er ist noch ein bisschen mitgenommen. Könnten die Kinder einfach noch ein paar Tage bei euch bleiben?«
Keine Chance. Absolut keine Chance. Sobald Pops nur das Wort »Unfall« erwähnte, hatte die Angst zugeschlagen und sich wie eine Million spitzer Nadeln in jeden Zentimeter von Dees Körper gebohrt.
»Ich will ihn sehen«, hatte sie geschrien und damit sowohl Scott als auch Kieran zum Weinen gebracht. »Ich
will nach Hause. Ich will ihn
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