Gefaehrlich schoener Fremder
nächsten Morgen, als sie nach einem bösen nächtlichen Alptraum im Krankenhaus die Augen aufschlug und Tyler an ihrem Bett sitzen sah.
Tyler war Trace wie aus dem Gesicht geschnitten. Fast. So wie er hätte Trace vielleicht ausgesehen, wenn er ein anderes Leben geführt hätte.
Vor allem die Augen. Sie waren genauso schwarz und unwiderstehlich, nur war der Blick weicher, offener, leichter zu deuten. Insgesamt wirkte Tyler jünger als sein Bruder.
„Sind Sie auch ein Spion?" fragte Emily.
Auch sein Lachen war anders. Es klang unbeschwert und echt. „Nein, ich bin Polizist."
Emily runzelte die Brauen. „Und wie sind Sie in diese Geschichte hineingeraten?"
Tyler zuckte die Achseln. „Jamie O'Connel hat mich angerufen. Sagte, ich solle in Traces Auftrag nach einem sehr wichtigen Päckchen sehen, das in der Hütte sei."
Emily schüttelte den Kopf. „Ich dachte, Sie glaubten, Trace sei bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen."
Mit einem Schlag wurde Tylers Miene hart, grimmig, und in diesem Augenblick sah er tatsächlich genauso aus wie Trace.
„Früher glaubte ich das tatsächlich. Zwei Jahre lang lebte ich in dem Glauben, ich hätte meinen Bruder verloren."
„Und später hat Trace Ihnen die Wahrheit gesagt?"
„Nein. Ein Mann namens Garibaldi setzte sich mit mir in Verbindung und erzählte mir eine so unglaubliche Geschichte, dass ich ihn einen Lügner nannte.
Bis dahin hatte ich nämlich gedacht, Trace arbeite für eine Ingenieurfirma. Nun, dieser Garibaldi sagte mir, Trace stecke in Schwierigkeiten und benötige meine Hilfe."
„Sie sollten spionieren?"
„Nichts so Dramatisches. Er wollte einfach, dass ich für eine Weile Trace sei."
Das erklärte natürlich, warum Tyler sofort gewusst hatte, wer Pennington war.
„Trace war vor Wut bestimmt außer sich, als er herausbekam, dass Jamie Sie hineingezogen hat."
Tyler lächelte weich. „Ich bezweifle, dass O'Connels Nase je wieder die alte sein wird. Aber er ahnte ja nicht, dass er mich irgendeiner Gefahr aussetzte. Er wollte einfach nur, dass ich nach Ihnen sehe."
Daher also Jamies Pflaster auf der Nase, dachte Emily. Ihr Blick blieb auf Tylers Verband liegen, der sich unter seinem marineblauen Hemd abzeichnete.
,,Ich verstehe nur nicht, warum Kessler oder Pennington nicht zwei und zwei zusammengezählt und erkannt haben, dass sie nicht Trace geschnappt hatten, sondern Sie."
„Ganz einfach." Tyler lehnte sich zurück und legte eine Hand aufs Knie. „Sie wussten nichts von mir. Nur O'Connel und Garibaldi kannten Traces Familienhintergrund. Für die anderen war er ein Mann ohne Namen und ohne Vergangenheit."
„Ein Geist", ergänzte Emily nachdenklich. „Aber wo ist Trace jetzt?"
Tyler sah sie mitfühlend an. „Er ist fort, Emily. Zurück nach Washington. Es ist noch einiges zu klären."
Emily bemühte sich, ihre Tränen zurückzuhalten. Jetzt erinnerte sie sich wieder an das, was Trace ihr gesagt hatte. Das grausame Abenteuer war nur für sie vorbei. Er selbst hatte noch eine Aufgabe zu erledigen, musste einen Spion aufspüren, sich Gefahren aussetzen und vielleicht...
Tyler zog einen weißen Brief aus der Tasche und hielt ihn Emily hin. „Den soll ich Ihnen von Trace geben." Er legte den Brief aufs Bett. „Emily ..."
In dem Moment stürmte eine Krankenschwester ins Zimmer. „Ah, gut, Sie sind wach, Miss Osborn." Sie hob Emilys Arm und legte ihr zwei Finger innen ans Handgelenk. Dabei warf sie Tyler einen strengen Blick zu. „Ich hatte Ihnen doch gesagt, Sie sollten läuten, sobald Miss Osborn wach ist. Sie müssen jetzt gehen."
„Aber..."
„Kein Aber, Mr. Logan. Sie kennen unsere Abmachung", gab die Schwester in einem Ton zurück, der keinen Widerspruch duldete.
Hilflos sah Tyler Emily an und zuckte die Achseln. „Wir sehen uns später."
Emily lächelte gequält. Sie wollte Tyler nicht später sehen. Sie wollte niemanden sehen. Sie wollte sich nur ihrem Kummer hingeben - darüber, dass Trace weg war und sich nicht einmal verabschiedet hatte.
Nachdem auch die Schwester gegangen war, las Emily den Brief. Logan entschuldigte sich noch einmal für alles, was sie durch seine Schuld hatte durchmachen müssen. Es war ein Abschiedsbrief.
Emily war wütend und traurig und wollte nur noch nach Hause.
Ihre düsteren Gedanken wurden durch den Klang einer sehr lauten, sehr ärgerlichen, sehr vertrauten Stimme vom Gang her unterbrochen.
„Geduld? Bis jetzt bin ich die verkörperte Geduld gewesen, aber jetzt ist sie zu Ende.
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