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Gefährliche Freiheit

Gefährliche Freiheit

Titel: Gefährliche Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Peterson Haddix
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Unterernährung, haben die Ärzte gesagt. Er – er wäre sonst kerngesund gewesen. Also hat die Bevölkerungspolizei sozusagen meinen Sohn ermordet. Und ich bin gekommen, um mit eigenen Augen zu sehen … ob sie hier wirklich die ganze Zeit Essen im Überfluss hatten …«
    Sein Gesicht schien entlang der Narbenränder auseinander zu brechen. Es war ein entsetzlicher Anblick, bis Luke klar wurde, dass der Mann weinte.
    »Ich – musste – es – einfach – sehen«, schluchzte der Mann.
    Luke stellte sich wieder richtig hin und wandte sich ab. Er konnte nicht länger hinsehen und richtete den Blick starr auf das graue Sweatshirt seines Vordermanns. Als er weiter vorrückte, zog er den Quilt noch enger um sich. Plötzlich tat sich in der Menge eine Lücke auf und ein gleißendes Licht schien Luke direkt in die Augen.
    »Und deine Geschichte, junger Mann?«
    Die Stimme von Simone. Sie stand direkt neben ihm und hielt ihm das Mikrofon vors Gesicht.
    »Wie?«, murmelte Luke. Er sah sein Spiegelbild in der Kameralinse, ein in eine Decke gehüllter Höhlenmensch mit dreckverschmiertem Gesicht, dem kleine Zweige aus dem stumpfen zerzausten Haar ragten. Sein Blick wanderte wieder zu Simone zurück, die aus der Nähe noch schöner war als von weitem oder auf dem Fernsehbildschirm. Ihr kaskadenartig herabfallendes blondes Haar schimmerte und ihre blauen Augen funkelten.
    »Wir befragen alle, warum sie heute Abend hierhergekommen sind«, erklärte sie freundlich. »Welche Erfahrungen sie in der Vergangenheit mit der Bevölkerungspolizei gemacht haben, warum sie jetzt feiern … Das ist deine Chance, dem ganzen Land deine Geschichte zu erzählen.«
    Luke starrte Simone an; in seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Er könnte bekennen, dass er derjenige war, der sich in Chiutza geweigert hatte, die alte Frau zu erschießen. Dass er den Rebellen die Waffe nicht absichtlich übergeben, sondern sie einfach nur fallen gelassen hatte und weggerannt war und daher nicht allzu viele Lorbeeren verdiente. Er könnte ihr erklären, welche Pläne er, Nina und Trey im Hauptquartier der Bevölkerungspolizei verfolgt hatten und dass sie selbst dann weitergemacht hatten, als sie entmutigt waren. Er könnte ihr beschreiben, wie seine Freunde ihn aus einem Gefangenenlager der Bevölkerungspolizei befreit hatten. Dass er auf genau diesem Grundstück mit angesehen hatte, wie zwei Menschen ermordet wurden. Und er könnte ihr von Jen erzählen und dass er sich selbst jetzt, fast ein Jahr später, noch von ihr verfolgt fühlte.
    Er könnte auch davon erzählen, dass er ein drittes Kind war.
    Dann dachte er daran, was der vernarbte Mann über seine Frau gesagt hatte: »Dabei war sie rechtmäßig schwanger.« Er dachte daran, wie die Frau am Abend vor dem Fernseher gemahnt hatte: »Die Bevölkerungspolizei kann jeden Moment zurückkommen, mit Panzern und Gewehren und – und –« Er dachte an Elis Geständnis, dass sie ein Schattenkind aus ihrem Dorf angezeigt hatten. Dachte an die zwölf Jahre, die er im Versteck gelebt und mitangesehen hatte, wie seine Eltern gegen die Angst ankämpften, ihr Geheimnis könnte eines Tages enthüllt und Luke umgebracht werden.
    »Ihr – ihr nennt euch doch Freiheitssender, nicht wahr?«, sagte er schließlich.
    »Ja, richtig«, bestätigte Simone. »Das tun wir.« Sie stand erwartungsvoll da, bereit, jedes seiner Worte aufzuzeichnen und seine Geschichte ins ganze Land zu übertragen.
    »Dann habe ich auch die Freiheit, nichts zu sagen«, antwortete Luke. »Ich habe die Freiheit, euch kein einziges Wort zu erzählen.«

 
21. Kapitel
     
    Simone starrte Luke an, als habe er sie geohrfeigt.
    »Du meine Güte«, sagte sie. »Deswegen musst du doch nicht gleich ein Spielverderber sein.«
    Luke drückte sich an ihr, dem Mikrofon und der Kamera vorbei und versuchte, sich wieder unter die Leute zu mischen. Im gleichen Moment überfiel ihn ein Zittern, das nicht mehr aufhören wollte. Er fühlte sich ebenso unsicher und verfolgt wie bei seiner Flucht vor Officer Houk, vor den Bewohnern von Chiutza, vor der Bevölkerungspolizei in dem verlassenen Dorf und aus Elis Haus.
    Es ist alles in Ordnung. Du hast nichts gesagt. Niemand verfolgt dich. Beruhig dich!
    Er versuchte, sich nur auf die Leute um sich herum zu konzentrieren, sich abzulenken und klarzumachen, dass alle außer ihm feierten und glücklich waren. Im grellen Scheinwerferlicht schienen ihre bunten Kleider derart um ihn herumzuwirbeln, dass er den Blick

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