Gefährliche Freiheit
die Haare mit Sattelseife. Das fleckige, zerrissene Uniformhemd, das er immer noch auf links trug, tauschte er gegen ein langärmeliges T-Shirt, das er in einem Kleiderhaufen hinter den Boxen entdeckte, dort, wo sich die Officers nach dem Ausreiten immer umgezogen hatten. Es war nicht sehr warm, aber dafür würde es niemand für ein Bekleidungsstück der Bevölkerungspolizei halten.
Als er fertig war, stand er vor Jennys Box. »Jetzt sehe ich etwas vorzeigbarer aus, findest du nicht?«
Jenny wieherte und rieb ihren Kopf an seiner Schulter.
»Ja, ich weiß«, sagte er. »Mutter wäre stolz, dass ich ans Waschen gedacht habe. Aber Jen hätte gewusst, dass ich damit nur das Fortgehen hinauszögern wollte. He – pass auf mit deinem Hafergesabber. Ich will das T-Shirt nicht gleich wieder ausziehen müssen!«
Er wandte sich von der Box ab und ging entschlossen zur Stalltür, öffnete sie einen Spalt weit und spähte hinaus.
Draußen leuchtete die Sonne, es war ein wunderschöner Tag. Irgendwie schien es, als habe über Nacht der Frühling Einzug gehalten.
Luke streckte vorsichtig den Kopf durch die Tür, damit er um die Ecke des Stallgebäudes sehen konnte. Die Menschenmenge war immer noch da, draußen auf der großen Rasenfläche, aber es wurde nicht mehr gesungen, gejubelt oder getanzt. Die Leute schienen sich zu unterhalten, manche auch gerade erst aufzuwachen. Verschwommen bemerkte Luke vorn, in der Nähe des Tores, eine Gestalt mit einer Kamera auf der Schulter und eine weitere Person, die in ein Mikrofon sprach. Die Berichterstattung ging also weiter.
Zumindest sieht es erst mal nicht danach aus, als wäre die Bevölkerungspolizei mitten in der Nacht zurückgekommen, sagte er sich, als er aus dem Stall trat.
Es war nicht sehr weit bis zum Hauptgebäude, doch Luke musste ständig ausweichen, weil überall auf dem Rasen Menschen lagen, die am Vorabend so lange gefeiert hatten, bis sie müde wurden und einfach an Ort und Stelle eingeschlafen waren.
Ein Glück für sie, dass es so mild ist, dachte Luke.
Er war froh zu sehen, dass ihre Brustkörbe sich hoben und senkten, froh, dass er sich nicht fragen musste, ob sie tot waren.
Wenn die Bevölkerungspolizei wirklich fort ist, wenn wirklich alle Menschen frei sind – wie lange dauert es dann, bis ich endlich aufhöre, an solche Dinge zu denken?, fragte sich Luke.
Er kam zur Hintertür des Hauptgebäudes und trat ein. Er stand in einem ihm unbekannten Raum, in dem eine Menge Schürzen nebeneinanderhingen.
»Zu essen gibt’s hier drinnen«, rief ihm jemand zu.
Luke betrat einen größeren Raum, der voller Tische war. Er fühlte sich an den Speisesaal der Hendricks-Schule erinnert, nur dass keine Küchengehilfen herumeilten und Essen verteilten. Stattdessen standen Leute vor einem langen Tisch, auf dem sich Äpfel und Orangen türmten.
»Gestern gab es warmes Essen, nicht bloß Obst«, maulte ein Kind vor ihm. »Wo ist das Brot? Wo sind die Waffeln? Warum gibt es keine Donuts mehr?«
»Die Leute, die hier gearbeitet haben, sind alle fort«, sagte Luke. »Es ist niemand mehr hier, um Brot, Waffeln oder Donuts zu backen.«
Dabei war er selbst nicht gerade begeistert davon, sich mit Obst begnügen zu müssen. Er umrundete den Tisch und ging in die Küche.
»Nina?«, rief er leise, weil er wusste, dass sie hier gearbeitet hatte. Wie viel besser würde er sich fühlen, wenn sie hinter einem der aufgereihten Edelstahlkühlschränke hervorlugen oder am anderen Ende der langen Schrankreihe auftauchen würde. Doch ihr Name verhallte in der stillen, menschenleeren Küche.
Ich hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass sie hier ist, sagte er sich. Schließlich ist sie jetzt frei, nicht wahr?
Er öffnete einen der gigantischen Kühlschränke und entdeckte einige aufeinandergestapelte Eierkartons und riesige Milchkrüge.
»Kann ich …?«, wollte er gerade fragen, doch dann zuckte er mit den Achseln. Die Bevölkerungspolizei war fort. Es war niemand da, um ihm zu sagen, was er zu tun und zu lassen hatte, was er essen durfte und was nicht.
Luke suchte sich eine Pfanne und Öl und fand heraus, wie man die Herdplatten anschaltete. Er fahndete nach einer Schüssel und einer Gabel und schlug fünf Eier auf, die er dann in die heiße Pfanne goss. Im Nu stockten die Eier und die durchsichtige Masse verwandelte sich in trübes Weiß. Der Duft von gebratenen Eiern stieg aus der Pfanne und ließ ihn in Gedanken zurückwandern.
Letztes Jahr im April: Mein
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