Gefährliche Freiheit
zurück.
Oscar wandte sich ab und das Kamerabild verweilte auf seinem muskulösen Rücken. Dann drehte er sich noch einmal um.
»Eines noch«, sagte er. »Das, was Sie da tun, die Leute über ihre Erfahrungen mit der Bevölkerungspolizei zu befragen … Es könnte hilfreich sein, wenn wir unsere neue Regierung zusammenstellen. Es soll eine echte Regierung des Volkes werden. Und ich stelle mir vor, dass die Leute genau hier stehen und aussagen, von den Fehlern der Vergangenheit berichten und von ihren Hoffnungen für die Zukunft. Es könnte … reinigend sein.«
»Eine wunderbare Idee!«, schwärmte Twinings. »Wir haben bereits viel Material gesammelt, mit dem wir in Kürze auf Sendung gehen werden …«
Luke sah, wie Oscar vom Bildschirm verschwand. Durch das Fenster konnte er erkennen, dass Oscar draußen auf dem Rasen Philip Twinings und dem Kameramann den Rücken zugewandt hatte und sich auf das Hauptgebäude zu bewegte.
Ob er mich wiedererkennen würde, wenn er ins Speisezimmer käme?, fragte sich Luke. Weiß er, was ich getan habe? Würde er rufen: »Oh, mein tapferer Freund, ich bin ja so stolz auf dich und so dankbar für die Rolle, die du gespielt hast. Komm und hilf uns, die neue Regierung auf die Beine zu stellen.«?
Würde ich das wollen?
Im Fernsehen kündigte Philip Twinings die Aufnahmen an, die Simone und Tucker am Vorabend gemacht hatten, als die Menschen zur großen Feier durch die Tore geströmt waren.
»Und hier ist einer der eher komischen Kommentare, die wir eingefangen haben«, sagte Philip.
Dann sah Luke sein eigenes Gesicht auf dem Bildschirm. Er trug Elis Quilt um die Schultern, den er vor der Brust zusammenhielt, und sein Blick war verzweifelt.
»Ihr – ihr nennt euch doch Freiheitssender, nicht wahr?«, sagte er gerade im Fernsehen.
»Ja, richtig«, antwortete Simone. »Das tun wir.«
Der Bildschirm leuchtete von ihrer Schönheit, die Kamera betonte ihr volles blondes Haar, ihre leuchtend blauen Augen und ihre selbstbewusste Haltung. Viel zu schnell kam Luke wieder ins Bild, mit seinen zerzausten Haaren, dem wilden Blick und dem zerlumpten Quilt.
»Dann habe ich auch die Freiheit, nichts zu sagen«, sagte der Fernseh-Luke. Er hatte geglaubt, würdevoll und erhaben zu klingen, als er die Worte aussprach; wie ein Bürger, der seine legitimen Rechte einforderte. Doch im Fernsehen klang seine Stimme dünn und krächzend und variierte in einem einzigen Satz von hoch nach tief. Er klang wie ein Verrückter. Wie einer, der es verdient hatte, dass man sich über ihn lustig machte.
Luke wurde rot und sackte tiefer in seinen Stuhl.
Wieder einmal dabei, sich zu verstecken.
24. Kapitel
Als Luke zum ersten Mal ins Hauptgebäude der Bevölkerungspolizei gekommen war, das damals noch das Heim der Familie Grant war, hatte er viel Zeit damit verbracht, herumzuwandern und sich zu fragen, wer er eigentlich sein und wie er sich verhalten sollte. Nachdem er sein Rührei-Frühstück beendet hatte, tat er das Gleiche wieder. Damals hatte er unter den Dienstboten gelitten, die ihn beobachteten, nach seinen Mathematiknoten fragten und mit ihm schimpften, weil er nicht rechtzeitig zum Abendessen den Smoking angezogen hatte. Alle hatten getan, als wüssten sie genau über ihn Bescheid, und genau das war es, wovor er Angst gehabt hatte. Er hatte gefürchtet, sie könnten wissen, dass er ein Betrüger war.
Dieses Mal schien niemand auch nur die geringste Notiz von ihm zu nehmen. Er war einfach nur ein Junge ohne Identität in einem Land voller Kinder, deren Identität man ausgelöscht hatte.
»Vermutlich können wir uns jetzt aussuchen, wer wir sein wollen«, hörte er ein Mädchen sagen, als er draußen durch die Menge ging.
»Und wir können uns aussuchen, was wir tun wollen«, sagte der Junge neben ihr. Er beugte sich vor und gab ihr einen Kuss, wobei er sie nach hinten bog, als würden sie Tango tanzen.
»Oder auch nicht«, sagte das Mädchen, sobald er sie losließ. Sie fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund, als wollte sie seinen Kuss fortwischen.
Während Luke mehr oder weniger unsichtbar an ihnen vorüberging, fragte er sich, ob dies wirklich Freiheit war, dieses Gefühl von Verlorenheit. Vor einem Jahr, im Versteck, hatte er noch geglaubt, überhaupt keine Wahl zu haben; und nun war es, als hätte er zu viele Entscheidungsmöglichkeiten. Er konnte weiter herumwandern oder zum Pferdestall zurückgehen, er konnte sich zu Mr Hendricks Haus aufmachen, nach Hause zurückkehren
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