Gefährliche Freiheit
oder Oscar ausfindig machen …
Welche Entscheidung ist die richtige?, fragte er sich.
Jetzt, wo er Oscar im Fernsehen gesehen und mit angehört hatte, wie dieser den Erfolg des Umsturzes für sich reklamiert hatte, war er nicht mehr sicher, einfach fortgehen zu können. Immer wieder sah er vor sich, wie Oscar im Fernsehen ausgesehen hatte: selbstbewusst, mächtig, mit prallen Muskelpaketen und glatt zurückgekämmtem Haar. Er hatte einen Anzug getragen. Und immer wieder verglich Luke dieses Bild mit dem Anblick, den er selbst auf dem Bildschirm geboten hatte: in eine Decke gehüllt, mit zerzausten Haaren und krächzender Stimme, als er zu sagen versuchte: »Dann habe ich auch die Freiheit, nichts zu sagen.«
Wieder und wieder versicherte sich Luke: Offensichtlich hat Oscar alles unter Kontrolle. Es ist nicht so, als würde er deine Hilfe benötigen. Doch jedes Mal hallte etwas in ihm wider, eine kleine Stimme, die fragte: Aber vertraust du ihm?
Luke erinnerte sich daran, wie Oscar ihm erzählt hatte, dass er in armen Verhältnissen aufgewachsen sei, genau wie Luke, und dass er die Barone hasse, jene Leute, denen das ganze Geld gehörte. Smits Grant dagegen, der ein Baron war, hatte Oscar weisgemacht, dass er selbst ein Baron sei. Luke erinnerte sich daran, wie wenig Oscar Smits’ Schicksal gekümmert hatte; wie gelassen er gewirkt hatte, als Mr und Mrs Grant gestorben waren, und wie er sich über Luke lustig gemacht hatte, als dieser ihn fragte, ob man die Regierung nicht auch mit friedlichen Mitteln bekämpfen könne.
Wenn ich doch nur sehen könnte, was Oscar gerade tut, überlegte Luke, vielleicht würde ich mich dann besser fühlen?
Luke drehte sich um und ging zum Hauptgebäude zurück. Wieder benutzte er den Hintereingang, doch dieses Mal ging er am Speisezimmer vorbei und betrat Räume, die er nicht mehr gesehen hatte, seit das Haus den Grants gehört hatte. Damals hatte er das Gebäude für ein riesiges Labyrinth gehalten, voller Gänge, die nirgendwo hinführten, und Zimmern, die ihre Lage veränderten, sobald er an ihnen vorüberging. Er wusste, dass sich die Zimmer nicht wirklich verschoben hatten, sondern dass das eigentliche Problem seine Angst und Panik gewesen waren.
Jetzt habe ich nichts mehr zu befürchten. Schließlich bin ich frei, nicht wahr? Ich versuche nicht, jemand zu sein, der ich nicht bin. Die Bevölkerungspolizei ist nicht mehr an der Macht. Niemand hat Anlass, mich umbringen zu wollen. Ich muss nicht einmal mit Oscar reden, wenn ich nicht will. Ich kann ihn einfach nur … beobachten.
Aus den Zimmern, die er durchquerte, waren die vornehmen Möbel der Grants verschwunden. Luke wusste nicht, ob die Bevölkerungspolizei sie fortgeräumt oder ob Plünderer sie weggetragen hatten, nachdem die Bevölkerungspolizei verschwunden war. Offensichtlich schien sich niemand mehr für die Zimmer zu interessieren: Seit er den Speiseraum verlassen hatte, war er keiner Menschenseele mehr begegnet. Luke fragte sich, was wohl in den Aktenschränken sein mochte, die mancherorts an den Wänden standen, doch alle Schubladen, die er aufzog, waren leer.
Oscar hat gesagt, es würde Gerichtsverhandlungen geben, erinnerte sich Luke. Vielleicht waren in den Schubladen Unterlagen, die sämtliche Verbrechen der Bevölkerungspolizei belegen, und man hat sie in Sicherheit gebracht, weil sie als Beweismittel dienen sollen.
Dennoch störte ihn irgendetwas am Anblick der vielen leeren Schubladen.
Er ging weiter und suchte nach der Treppe. Die wirklich wichtigen Mitglieder der Bevölkerungspolizei hatten ihre Büros im ersten Stock des Gebäudes gehabt, also konnte man wohl davon ausgehen, dass auch Oscar sich dort niedergelassen hatte.
Dann passierte Luke eine Tür, an die er sich gut erinnerte, und er blieb wie angewurzelt stehen.
»Das Geheimzimmer«, flüsterte er.
Dreimal war Luke durch diese Tür gegangen, jedes Mal in Begleitung einer anderen Person. Dreimal hatte er zugesehen, wie jemand einen Zahlencode in ein Tastenfeld an der Wand tippte, woraufhin der Raum schalldicht abgesichert wurde. Dreimal hatte er in diesem Büro gesessen und sich bemüht, irgendeine neue, niederschmetternde Nachricht zu verdauen. Einmal hatte er sogar einen Schlüssel für diese Tür in der Tasche gehabt, aber wo dieser Schlüssel jetzt war, wusste er nicht. Seitdem war zu viel passiert.
Luke war sicher, dass der Raum verschlossen sein würde; trotzdem streckte er die Hand aus und drehte am Türknauf.
Er löste sich
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