Gefährliche Freiheit
dann seht ihr … was die Bevölkerungspolizei unserem Land angetan hat.«
Er wandte sich vom Mikrofon ab und machte sich an den mühevollen Abstieg von der Bühne.
Er hat für die Bevölkerungspolizei gearbeitet und ausgemistet?, überlegte Luke. Dann hat er im Stall gearbeitet. Er ist der Junge, der mir nie aus dem Kopf gegangen ist, derjenige, der um eine größere Mistgabel gebeten hat. Und der verschwunden ist. Das ist also aus ihm geworden.
Luke sah zu, wie der Junge zuerst die Krücken eine Stufe tiefer stellte, sich dann mit dem ganzen Körper aufstützte und sich so von Stufe zu Stufe hinabarbeitete. Er schien sich in Zeitlupe vorwärtszubewegen, als traue er weder den Krücken noch seinen Beinen.
Mit ihm könnte ich mich zusammentun, überlegte Luke. Er war mit mir im Stall. Er weiß, wozu die Bevölkerungspolizei fähig ist. Ihm könnte ich von Oscar und Krakenaur erzählen.
Luke stand auf und begann sich durch die Menge zur Bühne vorzuschieben. Die Stimmung der Menschen schien sich unter dem Ansturm der erschütternden Geschichten verändert zu haben. Niemand rief mehr: »Hallo, du! Komm, tanz mit uns!« Oder »Sing mit uns!«; stattdessen murrten die Leute jetzt, an denen Luke vorbeikam: »He, pass auf! Du bist mir auf den Fuß getreten!« oder »Hör auf zu drängeln!«
Luke achtete nicht auf die Leute, die sich beschwerten; er wollte keine Zeit verlieren und den Jungen mit den Krücken finden. Als jemand sagte: »Hör auf zu drängeln!«, wich er zur Seite aus. Doch je näher er der Bühne kam, desto undurchdringlicher schien die Menge zu werden. Jedes Mal, wenn er zwischen einigen Leuten hindurchzutauchen versuchte, schloss sich die Lücke plötzlich. Er wandte sich nach rechts, dann nach links; er versuchte, sich in einer Diagonalen auf die Bühne zu zu bewegen. Nichts funktionierte. Irgendwo verstellte ihm immer eine Wand aus Menschen den Weg.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte er schließlich zu einem Mann, der den Weg nicht freigeben wollte. »Ich versuche, nach vorn zu kommen.«
»Es darf niemand nach vorn«, knurrte der Mann.
»Aber ich versuche, zu einem … Freund zu kommen«, sagte Luke und legte die Wahrheit ein wenig großzügiger aus, weil es so beruhigend klang, einen Freund zu haben. »Er war gerade oben auf der Bühne. Ich möchte mit ihm reden.«
»Es darf niemand nach vorn«, wiederholte der Mann, als wäre Luke zu blöd, um ihn beim ersten Mal verstanden zu haben. »Wir schützen die Leute, die auf die Bühne gehen.«
Luke sah sich um und begriff, dass die Mauer aus Menschen, die ihm den Weg zur Bühne abschnitt, nicht rein zufällig so dastand. Diese Leute waren Sicherheitspersonal. Leibwächter. Sie waren alle groß und muskulös, mit strengen Mienen. Ihnen fehlte lediglich die schwarze Uniform, dann hätten sie genauso ausgesehen wie die Wachen der Bevölkerungspolizei.
»Warum?«, fragte Luke. »Ich dachte, wir wären jetzt alle frei.«
Der Wachposten sah Luke an, als habe er den Verstand verloren.
»Hättest du denn den Mut, dich oben auf die Bühne zu stellen und von der Bevölkerungspolizei zu erzählen, obwohl du weißt, dass von den hohen Tieren immer noch welche auf freiem Fuß sind? Sich in diesem Moment vielleicht mitten unter dem Volk hier verstecken?«, fragte er zurück. »Die Leute haben Angst. Und das mit Recht. Frei zu sein ist nicht das Gleiche, wie in Sicherheit zu sein.«
»Oh«, sagte Luke. »Da haben Sie wohl Recht.«
Er stellte sich auf die Zehenspitzen, um dem Mann über die Schulter zu schauen – und sah gerade noch, wie der Junge mit den Krücken hinter der Bühne verschwand.
»Hören Sie«, versuchte Luke es noch einmal, »ich will nur mit dem Jungen dort drüben reden. Ich verspreche Ihnen, dass ich ihm nichts tun werde. Ich würde nie jemandem etwas zuleide tun. Ich will nur …«
»Tut mir leid«, sagte der Wachposten. »Vorschriften sind Vorschriften.«
»Aber wer hat die Vorschriften erlassen?«, fragte Luke, der sich bemühte, nicht verzweifelt zu klingen. »Ich dachte, die Regierung wäre abgesetzt und es gäbe keine Gesetze mehr –«
»Hör zu, Junge, es gibt eine neue Regierung. Und jetzt verzieh dich!« Der Mann schob Luke beiseite, so dass dieser mit dem Kopf gegen seinen Hintermann prallte und mit dem Oberkörper gegen die Schulter eines weiteren Mannes. Völlig empört schrien sie ihn an: »Aua! Du hättest mir die Nase brechen können!« und »He! Pass auf, wo du hintrittst!«
»’tschuldigung«, sagte Luke.
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