Gefährliche Freiheit
»’tschuldigung, ’tschuldigung, ’tschuldigung …«
Er zwängte sich durch die Menge, zurück zu einem Punkt, von dem aus er sehen konnte, wohin der Junge mit den Krücken gegangen war. Doch es war zu spät.
Der Junge war wieder einmal verschwunden.
28. Kapitel
Luke setzte sich wieder in die Menschenmenge. Doch er konnte sich nicht länger auf die Leute auf der Bühne konzentrieren, weil sich seine Gedanken überschlugen.
Eigentlich spielt es keine Rolle, dass ich nicht zu dem Jungen durchgekommen bin, dachte er. Was hatte ich denn erwartet, wie er mir helfen würde? Was kann er schon tun? Oder ich? Vielleicht habe ich alles nur missverstanden. Vielleicht deute ich das alles falsch. Was weiß ich denn schon?
Um ihn herum machte sich allmählich zornige Unruhe breit. Es war lange her, seit er irgendjemanden hatte klatschen oder jubeln hören, stellte Luke fest. Hin und wieder rief jemand: »Du sagst es!« oder »Ganz meine Meinung!«
Jetzt wissen alle, wie schrecklich die Bevölkerungspolizei war, dachte er. Jetzt können sie sich nicht mehr hinter ihrer Propaganda verstecken. Sie haben keine Chance, wieder an die Macht zu kommen.
Doch dieser Gedanke heiterte ihn nicht auf. Als er sich wieder der Diskussion auf der Bühne zuwandte – ein Mädchen erzählte, wie es einmal von einem Polizisten der Bevölkerungspolizei geohrfeigt worden war; ein Mann berichtete, dass er mit ansehen musste, wie sein Sohn an Hunger starb –, vermittelten ihm die traurigen Geschichten kein gutes Gefühl mehr. Trauer, Verzweiflung und Schmerz schienen sich über die Menge zu legen und alle anzustecken. Luke sah mehrere Frauen weinen. Er dachte an all die traurigen Menschen, denen er begegnet war, seit er vor fast einem Jahr sein Elternhaus verlassen hatte: die verängstigten Jungen in der Hendricks-Schule, die sich so verzweifelt nach einem Anführer gesehnt hatten, dass sie jemandem vertrauten, der sie hinterging. Smits Grant, der die Trauer über den Tod seines Bruders hatte verstecken müssen. Mr und Mrs Talbot, die ihre Tochter verloren hatten und nicht herausfinden konnten, was mit ihren beiden Söhnen war. Die Menschen in Elis Dorf, die ihre Häuser, ihre Würde und den Überlebenswillen verloren hatten.
»Das ist Unrecht! Verdammtes Unrecht!«, riefen die Leute um Luke herum jetzt.
»Einfach nur frei zu sein, reicht nicht«, erklärte ein Mann auf der Bühne. »Wir wollen Rache.«
»Du sagst es!«, schrie eine Frau hinter Luke.
»Jawohl!«, tönte es irgendwo aus der Menge.
Der Mann wartete, bis der Beifall und die Schreie verebbten. Dann bat er mit der Hand um Ruhe.
»Trotzdem …«, sagte er langsam und die Worte schienen in der Luft zu verharren. Einige Leute in Lukes Nähe warteten so gespannt auf das, was der Mann als Nächstes sagen würde, dass sie förmlich die Luft anhielten.
»Trotzdem glaube ich nicht, dass irgendetwas davon die Schuld der Bevölkerungspolizei war«, endete der Mann.
Luke rechnete damit, dass die Menge vor Zorn außer sich geraten würde. Natürlich war es die Schuld der Bevölkerungspolizei! Wer sonst hatte die Nahrungsmittelvorräte kontrolliert? Wer sonst hatte das Gehalt der Polizisten bezahlt, die junge Mädchen schlugen und junge Männer verprügelten, bis sie kaum noch laufen konnten?
Doch die Menge blieb stumm und wartete, dass der Mann weitersprach.
»Letzten Monat versprach die Bevölkerungspolizei meinem Dorf eine Ladung Lebensmittel«, erzählte er mit gedämpfter Stimme. Luke musste sich anstrengen, um ihn zu verstehen. »Sie waren wirklich bemüht, sie uns zu schicken, sie wollten uns helfen. Sie hatten keinen Grund, uns leiden zu lassen. Aber der Tag der Lieferung kam und …« Der Mann streckte die leeren Hände aus, die Handinnenflächen nach oben. »Nichts. Wir riefen im Hauptquartier an. Die Lebensmittel waren pünktlich auf den Weg gebracht worden. Der Grund, warum sie niemals eintrafen? Sie wurden gestohlen.«
Der Menge verschlug es den Atem. Irgendwo weit hinten rief jemand: »Wer hat sie denn gestohlen?«
Bekümmert schüttelte der Mann den Kopf. Einen Moment lang schlug er die Hände vors Gesicht und versuchte, sich zu fangen. Dann hob er den Kopf und sah in die Menge hinaus.
»Illegale dritte Kinder«, sagte er. »Eine ganze Horde davon stürzte aus den brachen Feldern und griff die Lebensmitteltransporter an. Sie waren wie Banditen, beraubten unschuldige Bürger und stahlen ihnen das Essen. Das ist der Grund, warum die Bevölkerungspolizei so
Weitere Kostenlose Bücher