Gefährliche Freiheit
hatte. Außerdem hassen die Leute die Bevölkerungspolizei immer noch. Und solange das der Fall ist, kann mir nichts passieren.«
Jenny schien ein wenig skeptisch dreinzublicken, aber was wusste sie schon? Sie war nur ein Pferd, das Hafer kaute. Luke schloss die Augen und grub sich tiefer ins Stroh, das er versäumt hatte auszumisten. Es war ihm egal. Er fiel in einen unruhigen Schlaf und begann sofort zu träumen: Jen war da und schrie ihn an.
Luke! Wach auf! Du musst aufwachen!
Es ist Nacht. … Nachts soll man schlafen, murmelte er im Schlaf zur Antwort und rollte sich in seinem Quilt wie in einem Kokon fester zusammen.
Nein, Luke! Ich meine es ernst!, schrie Jen wieder. WACH AUF!
Sie begann, am Fußende seiner Decke zu ziehen und versuchte, ihn auszuwickeln. Da wachte er wirklich kurzzeitig auf, gerade lange genug, um zu begreifen, dass Jenny, das Pferd, auf einem Zipfel seiner Decke stand und sie ihm mit ihrem Gewicht vom Leib zog.
»He, altes Mädchen«, murmelte Luke schlaftrunken. »Zu wem hältst du eigentlich?«
Er zog den Quilt hoch und schlief augenblicklich wieder ein.
Als er Stunden später das nächste Mal aufwachte, strömte die Sonne durch die Dachfenster; trotzdem fühlte er sich steif, kalt und schwindelig vor Hunger. Ihm fehlte Jennys Körperwärme: Das Pferd stand am anderen Ende der Box an die Wand gelehnt.
»Was denn? Bist du böse, weil ich gestern Abend deinen Stall nicht sauber gemacht habe?«, fragte Luke. »Oder hast du den Reden gestern zugehört? Erzähl mir bloß nicht, dass du dritte Kinder jetzt auch für alles verantwortlich machst.«
Seine Stimme wollte ihm nicht recht gehorchen; nicht einmal einem dämlichen alten Pferd konnte er heute Morgen einen Witz erzählen. Mit der für Pferde typischen Sturheit starrte Jenny ihn an, und Luke meinte ein Echo seines Traums zu hören: Luke! Ich meine es ernst! WACH AUF!
»Ich muss mir etwas zu essen besorgen, bevor ich völlig durchdrehe«, murmelte Luke.
Er gab den Pferden zu fressen, wusch sich das Gesicht und zog sich um. Als er schließlich aus dem Stall wankte, fühlte er sich besser. Im Glanz eines so hellen, sonnigen Tages wirkten die Warnungen von Albträumen und Geistern einfach albern.
Unverzüglich schlug er den Weg zur Küche und zum Speiseraum ein, als er in der Ferne Stimmen aus den Verstärkern dröhnen hörte. Philip Twinings und die anderen Fernsehleute hatten es anscheinend geschafft, das Mikrofon und was sonst noch kaputt war zu reparieren. Da sich die Menschenmenge bereits wieder auf dem Rasen zu versammeln begann, vermutete Luke, dass die Interviews gleich weitergehen würden.
Nur ein oder zwei Reden, sagte sich Luke. Nur, um sicherzugehen …
Als er auf die Menge zuging, musste er feststellen, dass über Nacht nicht nur die Mikrofone repariert worden waren. Jemand hatte an der Wand hinter der Bühne Plakate aufgehängt, gut sichtbar für die Menschenmenge und alle, die per Fernseher zusahen. Luke wurde immer langsamer, jeder Schritt von Grauen erfüllt. Schließlich war er nahe genug, um die Plakate lesen zu können.
Eines zeigte ein Baby mit einer 3 auf der Brust und der Bildunterschrift: ER IST DER GRUND, WARUM DU HUNGERN MUSST.
Auf einem anderen war eine Gruppe griesgrämiger Jugendlicher zu sehen und die Worte: HÜTE DICH VOR SCHATTENKINDERN.
Andere zeigten Familien mit drei Kindern. Sie waren betitelt mit DIE SCHLIMMSTEN VERBRECHER VON ALLEN und SIE SIND AN ALLEM SCHULD.
Es waren die Plakate aus dem geheimen Zimmer.
29. Kapitel
Luke musste sich mit aller Kraft zusammenreißen, um nicht laut NEEEEIIIIN … zu schreien, auf der Stelle zur Wand hinüberzulaufen und ein Plakat nach dem anderen abzureißen. Auch so entfuhr ihm ein Wimmern, das tief aus seiner Kehle drang, so dass die Leute ringsherum ihn plötzlich misstrauisch ansahen.
»Tut mir leid«, murmelte Luke. »Ich … Es … es ist nichts. Kümmert euch nicht um mich.«
Er drehte sich um und floh – zurück zum Stall, zurück durch die Tür, zurück in Jennys Box. Dort legte er die Arme um ihren Hals und vergrub das Gesicht in ihrem Fell.
»Es spielt keine Rolle«, murmelte er in ihre Mähne. »Die Posten würden mich aufhalten, selbst wenn ich versuchte, die Plakate abzureißen. Sie würden mich einsperren. Genau wie die Bevölkerungspolizei. Es hat sich nichts geändert.«
Er redete und lamentierte, weinte fast in Jennys Mähne. Aber stimmte das? Hatte sich wirklich nichts geändert? Obwohl die Bevölkerungspolizei fort
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