Gefährliche Freiheit
schallisoliert.
Ich muss hier raus, ehe Melton zurückkommt und das Schloss repariert, überlegte er. Bevor ich hier für alle Zeiten eingesperrt werde – frei und gleichzeitig gefangen.
Mit steifen Gliedern, deren Taubheit nun wieder in stechendes Kribbeln überging, kroch er unter den Plakatständern hervor. Er versuchte, sich daran zu erinnern, wie und wo die einzelnen Stapel gestanden hatten, damit er keinen von ihnen umstieß.
Es würde dich sowieso keiner hören, beruhigte er sich, aber dieser Überlegung folgte sogleich der paranoide Gedanke: Wenn ich hier ein Durcheinander veranstalte, werden sie wissen, dass jemand hier war. Womöglich können sie das irgendwie mit mir in Verbindung bringen …
Na und? Warum sollte das jemanden kümmern? Oscar hat gegen die Bevölkerungspolizei gekämpft, genau wie ich.
Bist du sicher?
Bei diesem Gedanken unterbrach sich Luke; er konnte keine inneren Streitgespräche führen und gleichzeitig durch die Dunkelheit kriechen. Er schob sich vorwärts, tastete mit der Hand durch die Luft. Schließlich berührte er den Türknauf und packte ihn.
Schnell weg, bevor Melton zurückkommt!, befahl er sich. Doch eine andere Angst hielt ihn davon ab, den Knauf zu drehen: Und wenn mich jemand aus dem Zimmer kommen sieht? Wenn sie mich an Oscar verraten und er herausfindet, dass ich gelauscht habe? Oder – wenn sie nun glauben, ich hätte irgendetwas mit den schrecklichen Plakaten zu tun? Wenn sie mich dafür verantwortlich machen?
Luke wünschte, er hätte den Mut, sämtliche Plakate in Stücke zu reißen, bevor er das geheime Zimmer verließ. Jen hätte es getan. Sie hätte sie zertrümmert und anschließend auf Melton gewartet, nur um ihm zu sagen: Das war ich. Um dieses Unrecht der Bevölkerungspolizei habe ich mich selbst gekümmert. Und jetzt lassen Sie mich mit Oscar sprechen, damit ich ihm erzählen kann, was ich sonst noch getan habe. Sie wäre nicht im Versteck geblieben, während Oscar sich Aldous Krakenaur vorknöpfte. Sie wäre herausstolziert und hätte erklärt: Hören Sie, ich habe mit Aldous selbst noch ein Wörtchen zu reden.
»Ich bin aber nicht du, Jen«, murmelte Luke. Trotzdem schaffte er es, die kleinere seiner Ängste im Zaum zu halten und die Tür zu öffnen.
26. Kapitel
Hinter der Tür war niemand. Luke sah sich kurz um, öffnete dann das nächstbeste Fenster und schlüpfte hinaus, ehe er es wieder hinter sich zuzog. Als er auf sicherem Boden stand, geschützt hinter einer Reihe hoher Büsche, begann er, sich lächerlich zu fühlen. Wenn niemand das unverschlossene Zimmer bewachte, würde es auch niemanden kümmern, dass er dort gewesen war. Er hätte zur Eingangstür des Gebäudes hinausmarschieren können und niemand hätte auch nur Notiz von ihm genommen.
Luke kämpfte sich durch das Buschwerk und trat hinaus ins Sonnenlicht und in die gleiche unbeschwerte Partystimmung, die er am vergangenen Abend schon erlebt hatte. Die Leute tanzten und sangen wieder: »Die Bepo ist fort … Essen, so viel wir woll’n …« Offensichtlich hatten die Leute dem Lied neue Strophen hinzugedichtet, seit Luke es das letzte Mal gehört hatte.
Nichts an der Szene um ihn herum ließ auch nur im Mindesten auf irgendeine Gefahr oder Intrige schließen. Trotzdem klopfte Luke das Herz noch immer bis zum Hals.
Oscar hat es auf jeden Fall mächtig aufgeregt, dass sich die Tür zum Geheimzimmer nicht abschließen lässt, sagte er sich.
Beharrlich machte er sich wieder auf den Weg zur Rückseite des Gebäudes. Ein Mädchen mit einem Tablett voller Kekse öffnete ihm die Tür.
»Möchtest du einen? Wir haben Unmengen davon zu verteilen«, erzählte sie ihm mit einem Grinsen.
»Nein, danke. Jetzt nicht«, murmelte er.
Er durchquerte den Speiseraum, wo eine Ansammlung von Leuten sang und sich gleichzeitig mit Essen voll stopfte:
Die Bepo ist fort
Essen, so viel wir woll’n
Wir essen bei Tag
Wir essen bei Nacht
Das ist
Ein herrliches Leben!
Auf der anderen Seite des Speisezimmers versuchte Luke, im Labyrinth der Gänge den Weg wiederzufinden, auf dem er zuvor zu dem geheimen Büro gelangt war. Einmal mehr waren die Korridore und Zimmer, an denen er vorüberkam, menschenleer.
Siehst du?, sagte er sich. Du hast einfach nur überreagiert, als du die Plakate gesehen hast. Oscar hat sich nur über das Schloss aufgeregt, weil er eine ungestörte Zusammenkunft mit Aldous Krakenaur haben wollte. Er musste sich mit ihm treffen, weil … weil Krakenaur Dinge
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