Gefährliche Freiheit
weiß, die für Oscar wichtig sind. Zum Beispiel, wo die ganzen Nahrungsmittelvorräte gehortet werden.
Luke bog um die letzte Ecke vor dem Korridor, der zum Geheimzimmer führte. Dann blieb er unvermittelt stehen.
Ein Mann lehnte lässig an der Wand und blätterte in einer Zeitung.
»He, du, wenn ich du wäre, würde ich nicht da langgehen«, sagte er und richtete sich ein wenig auf. »In einem der Zimmer da hinten haben sie gefährliche Chemikalien gefunden, die von der Bevölkerungspolizei zurückgelassen wurden.« Er deutete mit dem Kopf in Richtung des geheimen Zimmers. »Die neue Regierung versucht, das Zeug zu entsorgen«, er zuckte mit den Achseln, »aber du weißt ja – Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.«
»Oh«, sagte Luke und zögerte. Er war sich ziemlich sicher, dass die Geschichte mit den gefährlichen Chemikalien eine Lüge war, und wollte weitergehen. Doch der Mann hatte die Beine ausgestreckt und blockierte den Durchgang. Luke hätte sich regelrecht an ihm vorbeizwängen müssen. Die Haltung des Mannes wirkte zwar lässig, aber Luke vermutete, dass er in Wirklichkeit jeden Muskel angespannt hatte und bereit war, ihn zurückzustoßen, wenn er es darauf anlegte.
»Sie haben mich gebeten, die Leute zu warnen, die vorbeikommen«, sagte der Mann und zuckte wieder mit den Achseln. »Ich fand, das ist das Mindeste, was ich tun kann, wenn man bedenkt, wie viel ich schon gegessen habe, seit ich hier bin. Willst du was? Als ich das letzte Mal in der Küche war, haben sie, glaube ich, gerade Donuts aufgebacken. Sie müssten jetzt eigentlich fertig sein.« Er wies in die Richtung, aus der Luke gerade gekommen war. »Du musst nur den Gang entlang, dann nach rechts und dann wieder nach links …«
»Super, danke. Donuts klingt gut«, sagte Luke und trat den Rückzug an. Er wandte noch einmal den Kopf und sah, dass der Mann ihn immer noch beobachtete. »Eigentlich war ich gerade auf der Suche nach der Küche, aber ich habe mich, äh, ein bisschen verirrt.«
Er ging schneller und sauste durch das Labyrinth der Gänge, als sei ihm jemand auf den Fersen. Oder als versuche er, vor seinen eigenen Gedanken davonzulaufen.
Die ihn jedoch einholten.
Gefährliche Chemikalien? Ja, ganz bestimmt, dachte er wütend. Der Typ hat das geheime Zimmer bewacht. Er hat es bloß aus sicherer Entfernung getan, so dass er selbst nicht sehen kann, was er bewacht. Wahrscheinlich steht direkt vor der Tür noch ein Wachposten.
Aber warum bewachen sie die alten Plakate überhaupt? Sollen sie auch als Beweismaterial für die Prozesse dienen?
Und was haben Oscar und Krakenaur bei ihrem Treffen von Verhandlungen gesagt und der Verwendung eines Köders? Warum hat es so ausgesehen, als würde Oscar mit Krakenaur … feilschen?
Wieder durchquerte Luke den Speiseraum. Er nahm kaum Notiz davon, dass ihm jemand einen Donut in die Hand drückte, nahm kaum Notiz von dem Lied, das immer lauter durch den Raum schallte: »DIE BEPO IST FORT! ESSEN, SO VIEL WIR WOLL’N!«
Er stolperte durch die Hintertür, hinaus ins helle Sonnenlicht. Um keine weitere Aufmerksamkeit zu erregen, mischte er sich mitten unter die Menge, die sich in der Nähe der Mauer versammelt hatte, wo Philip Twinings, Simone und Tucker auf einer Bühne standen und weiter Leute interviewten.
Ich habe keine Ahnung, wie Regierungen normalerweise arbeiten, sagte sich Luke. Vielleicht läuft es ja genau so ab, wenn Regierungen wechseln – der neue Anführer trifft sich mit dem alten, damit sie die Einzelheiten besprechen können. Es hatte ihm gefallen, in welch bissigem Tonfall Oscar zu Krakenaur gesagt hatte: »Falls Sie es noch nicht bemerkt haben sollten: Sie sind derjenige, der hier in Handschellen und Fußketten sitzt, und ich habe hier das Sagen.« Ihm gefiel der Gedanke, dass Krakenaur jetzt in Ketten saß und sich auf dem Dachboden verstecken musste, genauso wie Luke sich vor der Bevölkerungspolizei hatte verstecken müssen.
Luke versuchte, sich zu erinnern, was er gedacht und gefühlt hatte in all den Jahren, die er im Versteck zugebracht und niemanden sonst gekannt hatte als seine Eltern und seine beiden Brüder – die Jahre bevor er Jen getroffen und sie seine ganze Welt verändert hatte. Er hatte sich machtlos gefühlt. Und irgendwie hatte er sogar begriffen, dass auch seine Eltern machtlos waren.
Krakenaur hat sich nicht benommen, als halte er sich für machtlos, überlegte Luke. Er hat sich benommen, als fände er immer noch, dass die Macht
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