Gefährliche Freiheit
hart und grausam durchgreifen musste. Das ist auch der Grund, warum die versprochenen Lebensmittel nie bei uns eingetroffen sind und warum die Bevölkerungspolizei nie die Chance hatte, so zu regieren, wie sie es gern getan hätte.«
Buhrufe und Pfiffe ertönten aus der Menge.
»Der Kerl ist verrückt«, sagte Luke zu dem Mann neben ihm, der besonders laut Buh rief.
»Was soll das heißen?«, sagte der Mann und funkelte Luke böse an. »Das ist der Erste, der etwas Vernünftiges von sich gibt.«
»Der Erste, der auszusprechen wagt, warum die Bevölkerungspolizei versagt hat«, meinte ein anderer.
Mit einem Mal hörte Luke die Buhrufe und Pfiffe anders. Sie galten gar nicht dem Mann auf der Bühne. Und auch nicht der Bevölkerungspolizei. Sie galten dritten Kindern.
Sie galten ihm .
»Buh, Illegale!«
»Die Illegalen waren es!«
»Sie sind schuld! Sie sind schuld!«, begann die Menge zu rufen.
Die beiden Männer warfen Luke immer wieder Blicke zu, weil er nicht in den Singsang mit einstimmte. Luke rappelte sich auf und machte, dass er fort kam. Die Buhrufe dröhnten in seinen Ohren. Er versuchte zu rennen, aber die Menschen standen zu dicht beieinander: Er stieß gegen Ellbogen, Hüften, Schultern und Knie.
Außer Atem und keuchend vor Angst erreichte er schließlich das Ende der Menschenmenge.
»Wir, äh, wir haben jetzt einen neuen Redner«, sagte Philip Twinings gerade ins Mikrofon, bemüht, die Menge wieder in den Griff zu bekommen. »Vielleicht vertritt er ja eine andere Sichtweise.«
Mit einem letzten Funken Hoffnung drehte Luke sich um. Er durfte die Hoffnung nicht verlieren, sonst konnte er nur noch aufgeben und sich der Verzweiflung überlassen.
Die Bevölkerungspolizei ist also nicht mehr an der Macht und ich hin immer noch illegal?, wunderte er sich. Es ist immer noch allein meine Schuld, dass Menschen hungern? Er dachte daran, wie verzweifelt er vor Monaten gewesen war, als Jen ihm den Grund für das Bevölkerungsgesetz erklärt hatte. Damals hatte er hart mit sich gerungen, bis er glauben konnte, dass das Gesetz Unrecht war und er ein Recht darauf hatte, zu leben.
Er sah, wie ein anderer Mann ans Mikrofon trat.
»Mir ist mal ein illegales drittes Kind begegnet«, sagte er. »Viel Menschliches war nicht an ihm dran, würde ich sagen. Er hat Lebensmittel geklaut wie ein Rabe. Und er …«
Der Mann redete weiter, aber Luke konnte ihn nicht mehr hören. Das Mikrofon schien kaputt gegangen zu sein.
Philip Twinings nahm dem Mann das Mikrofon ab.
»Wir –«, rief er und mit einer schrillen Rückkopplung schaltete sich das Mikro kurzzeitig wieder an. »Scheinbar gibt es einige technische Probleme. Wir unterbrechen daher für heute und machen morgen früh weiter.«
Luke war noch gar nicht aufgefallen, dass es bereits dämmerte, dass ein ganzer Tag vergangen war, während er in der Menge gesessen und den Geschichten zugehört hatte. In der einbrechenden Dunkelheit erhoben sich die Menschen und erwachten aus ihrer Benommenheit. Die meisten stellten murrend fest, dass sie Hunger hatten, und machten sich auf den Weg zurück zum Hauptgebäude, eilten in Richtung Küche und Speiseraum.
Auch Luke hatte Hunger. Die Rühreier am Morgen waren das Letzte, was er gegessen hatte. Er konnte sich noch erinnern, dass ihm jemand einen Donut zugesteckt hatte, nachdem er den Wachposten vor dem geheimen Zimmer entdeckt hatte, aber da war er zu abgelenkt gewesen, um ans Essen zu denken. Vielleicht hatte er ihn fallen lassen; vielleicht hatte ihn aber auch jemand aus der Hand genommen und Luke hatte es nicht einmal gemerkt. Er schaute sehnsüchtig auf das helle Licht, das aus den Fenstern des Speisezimmers drang. Er sah heiße Suppen und knuspriges Brot vor sich. Doch unter keinen Umständen konnte er sich jetzt unter die Menge mischen, die sich dort Essen beschaffte. Nicht jetzt.
Hungrig und frierend stiefelte Luke zum Stall zurück und fütterte die Pferde. Sein Quilt lag immer noch in Jennys Box und er wickelte sich darin ein.
»Das waren bloß zwei Männer, die dritte Kinder schlecht gemacht haben. Niemand sonst hat von uns gesprochen«, flüsterte er Jenny zu. Sie wandte den Kopf und sah ihn mit ihren mitleidigen Pferdeaugen an, hörte aber nicht auf zu kauen. Selbst in der düsteren Stallbeleuchtung konnte Luke sehen, wie ihre starken Zähne den Hafer zermahlten.
»Vielleicht waren es gar nicht so viele, die Buh gerufen haben«, erzählte er dem Pferd. »Vielleicht kam es mir nur so vor, weil ich Angst
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