Gefaehrliche Gefuehle
dafür einen Rüffel von ihrer Mutter eingefangen, die die Beleidigung ihrer älteren Tochter dagegen unkommentiert ließ. Kurz darauf hatte Vera ihren Vlog angefangen, in dem sie jede Woche etwas kommentierte, das sie scheiße fand. Das erste Thema war: Große Schwestern sind scheiße. Silvy hatte geschäumt, konnte aber nichts dagegen machen.
Ich stieg aus, gerade als auch Vera aus ihrem Wagen sprang. Sie war einen Kopf kleiner als ich, etwas moppelig und immer im Gothiclook in Schwarz und Lila gekleidet. Die Haare dazu passend gefärbt. Ziemlich schräg, aber ihr stand es.
»Hey Shit-Girl«, grüßte ich sie. »Die Geschäfte laufen wohl gut, was?«
Vera grinste und deutete auf den Aufkleber, auf dem unter einer weiblichen Comicfigur mit geballter Faust in weiß-lila Buchstaben »Shit-Girl« stand. »260.000 Follower«, antwortete sie. »Neuer Werbevertrag. Neues Auto.« Shit-Girl war im echten Leben weitaus wortkarger als in ihrem Vlog.
»Darfst du denn schon fahren?«
»Nur auf dem Parkplatz«, stöhnte Vera. »Wenn Idi Amin es nicht sieht.« So nannte sie ihre Mutter. Natürlich nur in deren Abwesenheit, denn die wäre ausgerastet, wenn sie gehört hätte, dass ihre Tochter sie mit dem berüchtigten afrikanischen Diktator verglich.
»Deine Schwester findet das Auto bestimmt total klasse«, sagte ich.
»Total«, gab Vera zurück. »Musste sich neues Make-up kaufen. Farbe Neidgelb.«
Ich lachte. »Freut mich ehrlich für dich, dass es gut läuft.«
Sie sah mich an, bleiche, runde Gesichtszüge, stark geschminkte Augen, ein Mädchen, das man im ersten Moment vielleicht für eine Loserin halten könnte, wäre da nicht der feurige, unbeugsame Blick. Sie nickte mir zu und sagte ernst: »Du bist echt nicht scheiße.«
»Danke. Ich dich auch«, gab ich grinsend zurück.
»Natascha, kommst du?«, rief meine Mutter.
Vera steckte sich eine Zigarette an, ich winkte ihr und lief dann meinen Eltern nach, gefolgt von Enzo. Am Ende des Parkplatzes entdeckte ich Justus’ Auto, einen alten Ford, den er liebevoll Mister Schrott nannte. Ich atmete tief ein, als mein Vater die große Eingangstür aufmachte, um uns in die Höhle der Löwin einzulassen.
10
D a sind Sie ja«, zwitscherte Silvys Mutter, als sie uns in ihrem bodenlangen schwarz-beigen Seidenkleid entgegenrauschte. »Herr Sander, ich freue mich außerordentlich, Sie und Ihre Familie heute begrüßen zu dürfen.« Sie ließ noch einige Schleimbemerkungen vom Stapel inklusive der täuschend echten Imitation von Begeisterung für den Look meiner Mutter (seit ich über Silvy Bescheid wusste, traute ich auch Frau Dr. Kern nicht mehr über den Weg), dann wandte sie sich an mich. »Natascha«, sagte sie seufzend. »Es ist ja wirklich ein Jammer, dass du auf eine andere Schule wechseln musstest! Und dann gleich so ein Drama dort!« Sie machte ein betroffenes Gesicht. »Ich konnte kaum glauben, was ich in der Zeitung lesen musste.«
»Ach«, sagte ich. »Die übertreiben doch immer.«
»Umso besser, dass du heute Abend hier bist. Unbeschadet! Und dann dieses Kleid. Das kenne ich doch von irgendwoher?« Sie zwinkerte mir zu. »Wo ist eigentlich Bastian?«
»Er macht gerade ein Praktikum im Ausland«, sagte mein Vater.
»Oh, wie schön«, säuselte Frau Dr. Kern. »Auslandsaufenthalte machen sich immer gut im Lebenslauf! Ah, David! Kommen Sie doch mal her!« Sie winkte einen gut aussehenden Typen herbei. Schwarze, dichte Haare, dunkle Augenbrauen, die knapp über den hellblauen Augen lagen, was seinem Blick eine besondere Intensität verlieh. Schätzungsweise Anfang dreißig, dunkelblauer Anzug, Smartphone in der Hand. Ein Streber mit Charisma, würde ich sagen.
»Herr Sander, das ist David Wöbke, mein Assistent. David, das sind André Sander und seine Familie. Großzügige Spende. Notieren Sie sich das für die große PK in zwei Wochen«, ratterte Silvys Mutter runter. Sie erklärte, was es mit der großen Pressekonferenz auf sich hatte, während David uns begrüßte, indem er jedem von uns dreien die Hand gab. Der Blick aus seinen Augen war wie ein Scheinwerfer, der einen sofort ins Rampenlicht brachte. Während Frau Dr. Kerns Stimme jetzt von der Tonlage eines Speichellecker-Profis zu dem der Geschäftsfrau wechselte, die einen dicken Fisch an der Angel hatte, suchte ich schon den Raum ab. Die Party fand in dem ovalen, von Säulen begrenzten Foyer statt, in dem Olivenbäume in großen Kübeln und ein Wasser speiender Schildkrötenbrunnen mediterranes Flair
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