Gefährliche Glut
Rocco hatte seine Stiefmutter nie erwähnt, was angesichts der Umstände allerdings auch wenig verwunderlich war.
„Und wo ist Isabella jetzt?“, fragte sie, während sie sich Josh an die Schulter legte, damit er sein Bäuerchen machen konnte.
„Ha! Da wo sie hingehört – unter der Erde, zum Glück. Sie ist im Schlossturm die Treppe hinuntergestürzt und hat sich das Genick gebrochen. Man sagt, dass es der Geist der Prinzessin war, der sie gestoßen hat, und außer dem Prinzen und Antonio hat ihr niemand nachgetrauert. Aber das ist auch kein Wunder, denn sie war es einfach nicht wert.“
Nachdem dieses Thema erschöpfend behandelt war, erklärte Julie: „Ich glaube, ich gehe mit Josh ein bisschen an die frische Luft. Ich habe oben einen Buggy gesehen, den kann ich doch sicher nehmen, oder?“
„Ja, aber von einem Spaziergang kann ich nur dringend abraten! Es ist viel zu kalt“, wandte Maria ein.
„Aber die Sonne scheint doch!“
„Das täuscht gewaltig, glauben Sie mir. Der Wind ist um diese Jahreszeit immer noch eisig“, warnte Maria. „Außerdem müssen Sie Rocco um Erlaubnis fragen, wenn Sie das Haus verlassen, und er ist nicht da.“
Diese letzte Bemerkung gab für Julie den Ausschlag. Trotz stieg in ihr auf. Seit wann musste sie bei einer Entscheidung irgendwen um Erlaubnis fragen? Dazu war sie nicht bereit, immerhin war sie ein erwachsener Mensch. Schlimm genug, dass sie gezwungen war, unter seinem Dach zu leben, mit ihm zu essen und – am allerschlimmsten – die Kleider zu tragen, die er gekauft und bezahlt hatte. Sie war nicht seine Gefangene und dachte gar nicht daran, wegen so einer Selbstverständlichkeit wie einem Spaziergang seine Genehmigung einzuholen.
Geschafft! Der Buggy war schwerer gewesen als erwartet, und Julie hatte Blut und Wasser geschwitzt, als sie ihn diese nicht enden wollende Treppe hinuntergetragen hatte. Doch nun konnte sie aufatmen.
Sie wollte dem Zitrushain einen Besuch abstatten, zu dem ein unbefestigter Weg führte, auf den sie jetzt einbog. Leider war der Wind tatsächlich ziemlich eisig – genau wie Maria es vorausgesagt hatte. Josh, der warm eingepackt in seinem Buggy saß, merkte nichts von der Kälte, während sie selbst weniger Glück hatte. Sie trug einen cremefarbenen Rock aus feiner Wolle, den sie dem Schrank in ihrem Schlafzimmer entnommen hatte, dazu ein hübsches hellgraues Oberteil von einem bekannten italienischen Designer, sowie weiche stahlgraue Pumps mit einem kleinen Absatz. Getäuscht von der Sonne, hatte sie auf einen Mantel verzichtet, zumal ihr noch warm gewesen war von der Anstrengung, die es sie gekostet hatte, den Buggy nach unten zu tragen.
Dass sie nicht nach ein paar Minuten umkehrte, lag nur an ihrem Trotz – und an Josh’ seligem Grinsen. Der Kleine genoss den Spaziergang sichtlich, und dieses Vergnügen wollte sie ihm nicht nehmen.
Bis in den Hain war es eigentlich nicht weit, obwohl Julie dabei nicht bedacht hatte, dass der Weg steil bergab führte. Was bedeutete, dass sie auf dem Rückweg den Buggy bergauf schieben und gleichzeitig gegen einen starken Wind ankämpfen musste, der jetzt schwarze Wolken vor die Sonne trieb.
Genau besehen hätte ihr vor Anstrengung eigentlich warm werden müssen, seltsamerweise war jedoch das Gegenteil der Fall. Sie zitterte.
In dem Moment, in dem ihr klar wurde, dass sie schon viel länger unterwegs war als beabsichtigt, begann es zu regnen. Julie erschrak. Bei dem Schneckentempo, in dem sie sich vorwärtsbewegte, hatte sie noch mindestens eine halbe Stunde Weg vor sich. Nachdem sie das Verdeck des Kinderwagens hochgeklappt und den Regenschutz aufgespannt hatte, goss es bereits in Strömen. Eine Folge davon war, dass sich der Buggy auf dem unbefestigten Weg, der sich in Windeseile in eine Schlammlache verwandelte, kaum mehr fortbewegen ließ.
Wie hatte das Wetter bloß in derart kurzer Zeit umschlagen können? Der eisige Regen stach ihr wie Nadeln in die Haut und erinnerte sie an den gerade hinter ihr liegenden scheußlich nasskalten Winter in London. Am Himmel ballten sich inzwischen so viele Regenwolken zusammen, dass es fast dunkel war. Vom Ätna, dessen Schönheit sie erst heute Morgen bewundert hatte, war praktisch nichts mehr zu sehen.
Für Reue war es jetzt zu spät, obwohl sie sich wünschte, ihrem törichten Trotz nicht nachgegeben zu haben. Mit aller Kraft stemmte sie sich gegen den Wind, der an ihr zerrte, und versuchte den Buggy im Matsch bergauf zu schieben, aber die Räder
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