Gefährliche Ideen
und einige Kritzeleien in ein Notizheft ausreichen, um unsere kreativen Fähigkeiten auf Topniveau zu halten.
Damit binden wir uns leider selbst einen ordentlichen Bären auf. Man wird nicht kreativer, indem man sein Gehirn mit lustigen Spielen füttert, sondern indem man es zwingt, Dinge zu tun, die es als andersartig, unbequem und schwierig wahrnimmt. Das Gehirn entwickelt sich, wenn man es ernsthaften Widerständen aussetzt, genauso wie man seine Kondition durch häufiges Jogging über lange Distanzen schult und nicht durch Sonntagsspaziergänge. Die neurologische Forschung lässt keinen Zweifel daran, dass unser Gehirn unbekannte und komplizierte Situationenbenötigt, um neue Denkweisen auszubilden. Auch wenn das Gehirn dazu in der Lage ist, neue Neuronenverbindungen herzustellen und schlummernde Bereiche zu aktivieren, so wird dies in Situationen geschehen, wenn es gegen unangenehme Widerstände ankämpfen muss, und nicht in der entspannten Atmosphäre von Kreativitätsworkshops. Was heute als »Thinking outside the box«, also Querdenken, bezeichnet wird, ist in der Regel eine gemütliche Aktivität für das Gehirn – ein Bummel und kein ordentliches Rennen. Um sich vor übermäßiger Anstrengung zu schützen, hat das Gehirn eine Art von ineinander verschachtelten Denkschablonen erfunden. Diese Technik ermöglicht es uns zu glauben, dass wir mit alten Denkmustern brechen, wenn wir uns in Wirklichkeit nur etwas vormachen.
Dies lässt sich mit dem Gefühl vergleichen, gegen eine Mauer anzurennen, das der Körper während eines Laufes bisweilen verspürt. Man glaubt dabei, einfach nicht mehr weiterlaufen zu können, und fühlt sich beinahe dem Tode nahe. Dennoch kann ein Läufer diesen Punkt überwinden, und wer die Schmerzgrenze durchbrochen hat, bewältigt üblicherweise eine weitaus größere Distanz, als er es je für möglich gehalten hätte. Es handelt sich um eine Behelfslösung, einen klugen Mechanismus, den der Körper entwickelt hat, um Energie zu sparen, aber er funktioniert überraschend gut. Und das Gehirn verwendet zu seinem Schutz nicht nur einen, sondern mehrere dieser Mechanismen.
Später werden wir uns damit beschäftigen, wie man das Gehirn dem für seine Entwicklung erforderlichen Druck aussetzen kann. Dabei werden wir auch darüber sprechen, warum man Kreativität zu einem ständigen Begleiter seiner Arbeit machen sollte – mit anderen Worten, warum es sich lohnt, ein Kreativitätsregime einzuführen. Im Moment genügt es zu erkennen, dass Kreativität und ihre Entwicklung eine echte Herausforderung darstellen, auf die man sich manchmal nur mit Mühe einlassenkann, und dass das alles harte Arbeit ist. Verabschieden Sie sich also ganz schnell von der Vorstellung, dass es einfache und schnelle Lösungen gibt.
Jeder Mensch ist anders – finden Sie sich damit ab!
Eine weitere große Illusion ist die Vorstellung, dass jeder kreativ sein kann. Sie enthält in gewisser Weise sogar ein Körnchen Wahrheit, denn man kann die meisten Menschen durchaus dazu bewegen, ihr Denken und ihr kreatives Potenzial bis zu einem bestimmten Grad zu entwickeln.
Trotzdem: Die verallgemeinernde Vorstellung, dass jeder Mensch kreativ sein könne, ist schlichtweg falsch. Kreativität gleicht insofern der Kunst des schnellen Rennens, als sie eine relative Kompetenz ist. Wenn wir an die Athleten denken, die an den Olympischen Spielen teilnehmen, so interessiert uns nicht wirklich, dass sie alle schnell sind: Vielmehr konzentrieren wir uns darauf, dass einer schneller ist als alle anderen, und verleihen ihm in Anerkennung dieser Tatsache eine Medaille. Der Umstand, dass der Athlet, der im zweiten Vorlauf den letzten Platz belegte, ebenfalls ziemlich schnell laufen kann, ist nicht wirklich von Bedeutung.
Genauso könnte man etwa behaupten, dass jeder heute lebende Mensch sehr wahrscheinlich kreativer ist als die meisten Erdbewohner im Mittelalter, aber das allein bedeutet noch lange nicht, dass wir heute alle kreativ sind. Wir können nicht alle gleichzeitig »kreativ« sein – es wird immer Unterschiede geben, Bilderstürmer und Ausreißer, deren Denken von demjenigen der breiten Masse abweicht. Das bedeutet nicht, dass die Menschen sich nicht auf Kreativität einlassen sollten, sondern vielmehr,dass eine ausgeglichene Verteilung von Kreativität schier unmöglich ist.
Jeder kann Fortschritte machen, dennoch müssen wir stets zwischen allgemeiner Entwicklung und notwendigen Unterschieden zwischen Individuen
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