Gefährliche Ideen
trennen. Sie, verehrter Leser, können kreativer werden, als sie heute sind, doch das bedeutet noch nicht notwendigerweise, dass sie »kreativ« sein werden, denn wenn alle um Sie herum sich ebenfalls entwickeln, haben Sie keinen relativen Vorteil erzielt. Es handelt sich um den »Red-Queen-Effekt« – nach der berühmten Figur aus
Alice im Wunderland
, die der neugierigen Alice erklärt: »Hierzulande musst du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst.«
In der heutigen Welt mit ihrem Druck, innovatives Denken auszubilden, führt das Festhalten an starren Regelwerken nur dazu, dass man sich auf demselben ausgetretenen Pfad bewegt wie alle anderen. Dabei fällt zwangsläufig so mancher zurück. Wer sich wirklich von der breiten Masse abheben will, darf nicht einfach nur an den unvermeidlichen Workshops teilnehmen und sich an der jeweils aktuellen Lieblingsübung des Trainers versuchen. Stattdessen heißt es, die Problemstellung mit vollem Einsatz in Angriff zu nehmen – selbst wenn dies bedeutet, sich von allem abzuwenden, was üblicherweise als kreativ verstanden wird. Gleichzeitig sollte man sich nicht allzu sehr auf eine bestimmte Form von Kreativität versteifen, indem man alles dafür tut, einer einzelnen Vorstellung davon gerecht zu werden. Ein großer Teil des Problems liegt darin, dass wir stets versuchen, klare Ziele zu definieren, welche die Menschen erreichen sollen. Menschen, die mit Kreativität arbeiten und sie fördern möchten, benötigen solche festen Vorstellungen, doch das bedeutet nicht, dass diese für Sie relevant wären. Sie sollten es nicht sein!
Kreativität und Macht
Die Kreativitätsbranche hat auch eine Machtdimension und gründet zu einem Teil auf der Aussage, dass es eine »bessere« Existenzform gebe, welche die Menschen anstreben sollten. Dazu werden bestimmte Typen von Menschen hervorgehoben, wobei man unterstellt, dass diese eine höhere Form menschlichen Daseins repräsentierten (vgl. etwa Richard Floridas Konzept einer »kreativen Klasse«). Kreativitätsvorträge und -workshops sind daher bisweilen recht quälende Veranstaltungen, in denen die Zuhörerschaft oft genug von oben herab behandelt und beleidigt wird. Eine klassische Technik, die von Vortragsrednern gerne angewandt wird, besteht etwa darin, zunächst die Bedeutung ständigen Hinterfragens zu betonen und danach eine Zeit lang über anderes zu sprechen – nur um plötzlich den Spieß umzudrehen und dem Publikum vorzuhalten, dass ja niemand gegen das Gesagte protestiere oder es hinterfrage. Der Redner grinst daraufhin so breit, wie er nur kann (das selbstzufriedene Grinsen in Reinform), untermalt mit spöttischen Gesten, während das Publikum verlegen kichert. Wieder einmal ist es gelungen, ein Machtverhältnis zu etablieren, eine Dominanzstellung gegenüber denjenigen, die »einfach nicht kreativ genug sind«.
Dasselbe Ziel lässt sich auch dadurch erreichen, dass man viel über sich selbst spricht – darüber, wie man unzählige Menschen motiviert oder ihr Denken verändert hat und wie Menschen in aller Welt auf die eigene Botschaft reagieren. Alles, was irgendwie nahelegt, dass es einen Idealzustand gibt, dem die Zuhörerschaft aber leider Gottes nicht wirklich gerecht wird – während man gleichzeitig die Möglichkeit andeutet, dass sich daran etwas ändern könnte, wenn sie denn nur für die Botschaft empfänglich wäre … Bitte missverstehen Sie mich hier nicht: Ich behaupte keineswegs, dass Menschen, die über Kreativität sprechen, bewusstversuchen, andere zu unterdrücken. Es geht mir vielmehr darum, dass die Kreativitätsbranche Machtdimensionen aufweist. Trotz aller womöglich gut gemeinter Absichten neigt die Diskussion über Kreativität dazu (und ist sogar darauf angewiesen), eine Aura der Exklusivität zu verbreiten, welche diejenigen beeindrucken soll, die es noch nicht ganz kapiert haben, die also noch nicht »angekommen« sind. Jede derartige Konstruktion impliziert, dass
Die Anderen
, die »Outsider«, nicht ganz so gut sind wie wir und daher dringend Entwicklung, Erleuchtung oder Erlösung benötigen – alles erhältlich bei Ihrem freundlichen örtlichen Kreativitätsberater.
Die Kunst, immer Recht zu haben
Eine weitere bei Autoren beliebte Machttechnik besteht in der Kunst, immer Recht zu haben. Diese feine Kunst beruht auf einigen vergleichsweise simplen rhetorischen Tricks, mithilfe derer sich nahezu alles in »Kreativität« verwandeln lässt. Der
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